Karin W. wirkt wie eine ganz normale ältere Dame. Sie ist Mutter und Großmutter, wie Tausende andere auch. Wären da nicht die breitmaschige Netzstrumpfhose und die grünen Fingernägel – niemand würde merken, dass die 56-Jährige ihr Geld mit Sex verdient. Karin W. ist Prostituierte.
Seit fast 25 Jahren arbeitet Karin in dem Gewerbe. „Dit darf man keenem erzählen“, sagt sie in starkem Berliner Akzent und lacht laut. Ihr dezent geschminktes Gesicht wird von braun-getönten kurzen Haaren umrandet. Falten hat sie kaum. Fast ihr halbes Leben hat Karin Männern für ein paar Scheine Lust verschafft.
Eigentlich kommt sie aus Ost-Berlin, aus der ehemaligen DDR. Dort ist sie aufgewachsen und zur Schule gegangen. Eigentlich wollte sie technische Zeichnerin werden. Daraus wurde aber nichts, weil sie eine Drei auf dem Zeugnis hatte. Stattdessen wurde sie Schuhmacherin und arbeitete zehn Jahre in einer Schuhfabrik. Ihr Versuch nach West-Berlin zu gelangen, brachte sie für sieben Monate ins Gefängnis, bevor sie 1985 dann tatsächlich in West-Berlin ankam.
„Ich hab mich erst mal zwei Jahre lang ausgeruht und dann dacht ich, jetzt musst du mal was machen‘“, erinnert Karin sich. Sie arbeitete ein Jahr lang in einem Imbiss in Grunewald, bevor ihr gekündigt wurde. Das Unternehmen sollte als Familienunternehmen weitergeführt werden und für Karin gab es keine Verwendung mehr. Zu dem Zeitpunkt erfüllte sie sich einen Traum: Sie reiste mit ihrem damals vierjährigen Sohn nach Afrika; 14 Tage in Kenia, mit Kamera und Safari. „Das Ganze hat mich 11.000 DM gekostet. Und da bin ich dann so richtig abgerutscht.“ Sie brauchte Geld.
Inflation der Hurerei
Über eine Freundin kam sie im Februar 1989 an ein Bordell in Berlin und beschloss kurzerhand es zu kaufen. 9.000 DM habe sie damals hingeblättert, um den total heruntergewirtschafteten Laden zu kriegen, erzählt sie. Karin brachte das Bordell als selbständige Unternehmerin innerhalb weniger Monate wieder in Schuss und verdiente monatlich 5.000 DM. Mehrere Frauen arbeiteten dort für sie. Wie viele, will sie nicht sagen. Ihr Laden war jedenfalls gut besucht: „Anfang des Jahres hab ich immer 1.000 Kondome für den Laden gekauft, weil es dann billiger war – die waren manchmal aber schon nach einem halben Jahr aufgebraucht.“
Doch auch die Zeiten, in denen es gut lief, waren irgendwann vorbei. Die letzten zwei ihrer 13 Jahre als Bordellbesitzerin waren finanziell alles andere als ertragreich. Sie arbeitet immer mehr und hatte immer weniger Geld übrig. „Nach 13 Jahren hab ich dann beschlossen aufzuhören. Und dann bin ich hier gelandet.“
Hier: das ist die Kurfürstenstraße in Berlin, auch bekannt als Drogenstrich. Hier und in den umliegenden Straßen stehen alle paar Meter leichtbekleidete Frauen, die auf Freierfang sind. Die Betongebäude in der Straße sind grau und kahl, ab und zu fahren langsam ein paar Autos vorbei. Wer die Straße entlang geht, spürt förmlich die lüsternen Blicke von der anderen Seite der Scheibe. Die Frauen in ihren extrem kurzen, eng anliegenden Hosen und Netzoberteilen, kommen vor allem aus Osteuropa, aus Bulgarien, Ungarn, Rumänien, Polen. „Man kann durch die ganzen Ausländer hier kein Geld mehr verdienen“, sagt Karin aufgebracht und fast schon wütend. „Die machen alles für billig Geld.“ Früher hätten sie bei 30 Euro angefangen. Daran habe es nichts zu rütteln gegeben. „Aber jetzt wollen sie ja schon für zehn Euro Französisch, am besten noch mit Analverkehr. Die sind ja nicht normal! Für 10 Euro machen die alles.“ Mit der EU-Osterweiterung ist nicht nur das Reisen innerhalb Europas komfortabler geworden. Auch wurden dem Menschenhandel und damit verbunden der Zwangsprostitution Tür und Tor geöffnet. Nur wenige der ausländischen Prostituierten leben und arbeiten legal in Deutschland.
Das Geschäft auf der Straße lohnt sich für Karin gar nicht mehr. Deswegen habe sie nur noch Stammgäste, die sie anrufen und dann zu ihr nach Hause kommen. „Auf die Straße“, betont Karin, „komme ich nur noch wenn ich lustig bin – und um zu essen“. Denn verhungern muss eine Prostituierte in der Kurfürstenstraße sicher nicht. Hier gäbe es überall kostenloses Essen, Kondome, Medizin, saubere Spritzen und Schlafplätze. An jedem Tag der Woche wird entweder in der Kirche oder von Ehrenamtlichen etwas angeboten.
Die Lebe-Dame
Durch ihre Stammkunden verdient die 56-Jährige nebenbei noch etwas Geld – schwarz. Bei 25 Männern kommt sie auf 500 bis 700 Euro zusätzlich im Monat, zusammen mit Hartz IV sind das etwa 1.000 Euro. Früher, als sie noch selbständige Besitzerin des Bordells war, habe sie aber auf jeden Fall mehr verdient.
Trotzdem hat sie nie Gespartes zurückgelegt oder eine Altersvorsorge getroffen. Und da ist sie nicht die Einzige: Auch die anderen Frauen in diesem Gewerbe, die Karin kennt, sorgen nicht vor. Um Anspruch auf Sozialleistungen zu haben, müssten sie sich nach dem Prostitutionsgesetz von 2002 selbständig melden. Doch das Gesetz scheint in der Realität wenig Erfolg gehabt zu haben, denn nur ein Bruchteil der Prostituierten ist sozialversichert. Vor allem die Angst vor dem Finanzamt würde diese Frauen davon abhalten, sich selbständig zu melden, meint Karin. „Ich wurde tausendmal darauf angesprochen, ob ich nicht mal was für die Rente zurücklegen wolle“, erzählt sie und gestikuliert dabei wild. „Ich sagte immer nur: Ich bin eine Lebe-Dame. Lass mich damit in Ruhe!“
Doch Befragungen des Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstituts SoFFi K belegen, dass bisher nur vereinzelt Arbeitsverträge mit Prostituierten abgeschlossen wurden. Nur wenige Prostituierte wurden zur Sozialversicherung angemeldet, da viele „Prostitution“ nicht als Beruf angeben wollen. Die Mehrzahl der Prostituierten möchte anonym bleiben und fürchtet den Verlust ihrer sexuellen Autonomie.
Wenn sie mal zu alt zum Arbeiten ist, dann würde ihr Sohn für sie sorgen, da ist sie sich sicher. Aber bis jetzt geht es ihr gut. „Ich bin kerngesund und fit“, sagt sie voller Überzeugung und lacht mit ihrer lauten verrauchten Stimme. Dass sie sich körperlich fit fühlt, nimmt man ihr ab. Sie bewegt sich fast ununterbrochen, mit ihren Händen fuchtelt sie ständig in der Luft herum. Sie trinkt keinen Alkohol und nur wenig Kaffee. Auch sei sie nie in Drogen verfallen, „wie die anderen“. Mit dem Sex gegen Bezahlung aufzuhören, hat sie nicht vor. „Bis 63 könnt ich mir noch vorstellen das zu machen, so nebenbei. Ich kann doch nicht meinen ganzen Stammgästen sagen, ich hör jetzt auf. Das geht ja gar nicht!“
Ihre Stammkunden kennt sie teilweise schon seit Jahrzehnten. Einerseits spricht sie von ihnen, wie von Freunden. Andererseits klingt sie abgebrüht wie eine Geschäftsfrau. Ein paar von ihnen kämen jede Woche zu ihr. „Da ist ein Opi mit 77 verstorben, der hat vor zwei Jahren einen Zungentumor gekriegt. Dann hat er sich wieder hochgeraffelt“, erzählt sie nachdenklich. Mit schwermütiger Stimme fährt sie fort: „Aber er meldet sich nicht mehr und irgendwie hab ich es im Gefühl, dass er nicht mehr unter uns ist. Der war die letzten zwei Male da und konnte nicht mehr abspritzen. Da hab ich nur noch Französisch gemacht. Und den hab ich jetzt auch verloren. War jahrelang meine beste Quelle“. Sie klingt traurig.
Ist man irgendwann zu alt, um auf der Straße anschaffen zu gehen? „Naja gut, mit 70 geht das nicht mehr und mit 65 auch nicht. Schon allein die Beleidigungen, die die Kunden dann loslassen: ‚Ey Oma, geh mal nach Hause‘ und was weiß ich, was man sich alles anhören muss.“ Abgesehen davon sei sie aber nie schlecht behandelt worden. Als sie noch im Bordell arbeitete, hat sie auch Hausbesuche gemacht. Dort hat einer ihrer Kunden ihr einmal drei Ratschläge gegeben, erzählt sie und hält kurz inne: „Erstens: Nie ohne Schutz. Zweitens: Küss nicht alle Männer. Drittens: Sieh es als Dienstleistung an“. Daran hat sich Karin bis heute ausnahmslos gehalten.
Mit wem sie mitgehen oder wen sie mit nach Hause nehmen kann, das hat sie im Gespür. „Manchen sag ich noch unterwegs: ‚Komm wir lassen das lieber.‘ Denn ich weiß ganz genau Bescheid, wen ich mitnehmen kann und wen nicht. Da bin ich Profi“, sagt sie stolz und fügt hinzu: „Naja… nach so vielen Jahren.“
So wie früher, nur anders
Ihr Sohn ist heute 36 Jahre alt. Sein Vater hat Karin im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft verlassen. Sie war noch nicht mal 21 als der Sohn geboren wurde. Natürlich hat sie sich auch später einen Lebenspartner gewünscht, aber „der kam einfach nicht“, sagt Karin lachend und scheint dabei eine gewisse Traurigkeit zu überspielen. Sie ist bis heute allein geblieben, ein „Einzelkämpfer“.
Ihren Beruf konnte sie ihrem Sohn nicht verheimlichen und wollte es auch gar nicht. Als sie nach Berlin kam und 1989 das Bordell kaufte, hat er dort mit ihr gewohnt. Manchmal habe sie zu viel getrunken und ihre Strapse dann irgendwo hingeschmissen. Ihr Sohn habe sie dann auch gefunden. Damals dachte sie: „Das musst du doch mal dem Kind sagen. Nicht so wie die anderen, die verheimlichen das. Und ich dachte, das ist doch Quatsch!“ 13 Jahre war ihr Sohn, als sie ihm erzählte, dass sie ihr Geld mit Prostitution verdient. Er reagierte gelassen: „Ach Mama, du musst wissen, wie du dein Geld verdienst. Mir ist das egal, was du machst.“
Auch ihre Mutter und Geschwister weihte sie kurze Zeit später ein. Diese hatten sich schon gewundert, woher das viele Geld kam. Ihre Mutter reagierte erst entrüstet, wollte sie dann aber unbedingt einmal im Bordell besuchen. Sie tauchte an einem Tag auf, an dem 13 Gäste kamen und Karin sehr beschäftigt war. Als sie davon erzählt, lacht sie laut und schlägt sich auf die Schenkel. „Es ist wirklich selten, dass so viele an einem Tag kommen.“
Inzwischen hat sie zwei Enkelkinder – das jüngste ist gerade ein Jahr alt –, die Karin oft besucht. Sie bringt ihnen Geschenke, wie jede Oma es tun würde. Glücklich ist sie mit ihrem Leben auf der Kurfürstenstraße dennoch nicht so richtig. Letztes Jahr war sie richtig am Boden. Sie dachte: „Jetzt wirst du schon 56 und bist immer noch in so ‘ner Aktion.“ Für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken sich das Leben zu nehmen. „Ich hab da gesessen und gedacht: Du müsstest im 20. Stock wohnen und dich einfach runterknallen.“ Dann habe es „tick“ gemacht in ihrem Kopf. Sie erinnerte sich an ihre zwei Kater und ihr Enkelkind. „Und dann hab ich gedacht: Du musst dir was einfallen lassen.“
Sie ließ sich was einfallen. Über Freunde kam sie an eine Schule für Hauswirtschaft und begann dort im Oktober 2011 eine Schulung als Fachkraft für Hauswirtschaft. Nachdem das Arbeitsamt ihr keine Unterstützung geben wollte, setzte sich die Schule dafür ein, dass der Europäische Sozialfonds (ESF) die Finanzierung übernahm. „Ich hab dann gedacht: Fachkraft für Hauswirtschaft – das hört sich zu einfach an. Wenn, dann musst du ein halbes Jahr nochmal länger machen und dann wirst du Managerin“, erzählt sie mit leuchtenden Augen. Sie schrieb noch einmal einen gepfefferten Brief an das Arbeitsamt, das ihr drei Tage vor Beginn des Managerkurses die Finanzierung zusagte.
Doch auch mit einem festen Einkommen will Karin auf ihre Dienste als Prostituierte nicht verzichten. Ob sie nochmal die gleiche Entscheidung treffen und in dieses Gewerbe einsteigen würde? „Auf keinen Fall“.
Der Lohn einer Prostituierten variiert sehr stark. Während eine Prostituierte auf dem Drogenstrich in Berlin für eine sexuelle Dienstleistung zehn Euro bekommt, verdient eine Escort-Dame in Hamburg oder München 200 Euro pro Stunde.
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