In nur einem Jahr haben sich 14.160 Menschen das Leben genommen. Das ist die traurige Statistik aus Südkorea im Jahr 2012. Das nordostasiatische Land steht somit an der Spitze der Suizid-Statistik unter den OECD-Ländern. Warum wählen so viele Südkoreaner den Freitod und wie geht die koreanische Gesellschaft damit um?
Vor wenigen Monaten wurden auf der abgesperrten Mapo-Brücke in Seoul einige Szenen für den Film The Avengers 2 gedreht. Die Filmcrew entdeckte eine Leiche von einem jungen Mann unter der Brücke. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der junge Mann Selbstmord begangen hat, denn die Mapo-Brücke in Seoul ist bekannt als eine der Brücken, die am häufigsten von Selbstmördern ausgesucht wird.
Ein trauriger Rekord
Mit 14.160 Suizidfällen hat Südkorea (ca. 49 Millionen Einwohner) die höchste Suizidrate unter den OECD-Staaten – und das, obwohl die Menschen im Land der Morgenstille1 als sehr temperamentvoll gelten, weswegen das Land häufig als Italien Asiens bezeichnet wird. Auch liegt das Land geografisch nicht so weit im Norden, wie etwa skandinavische Länder. Die lange Dunkelheit im Winter scheidet als Ursache für die hohe Selbstmordrate also aus. Doch was bewegt so viele Südkoreaner dazu, den Freitod zu wählen? Und wie geht die südkoreanische Gesellschaft damit um?
Überall verbreitet
Suizid gibt es überall. Depressive Menschen oder Menschen, die keinen Ausweg aus ihrer misslichen Lage finden und den Freitod als einzige Lösung sehen: arme oder reiche Menschen, Popstars oder bekannte Politiker oder einfache Menschen wie du und ich – überall gibt es sie. Die Motive sind dabei so vielfältig, wie die Menschen selbst: finanzielle Probleme, Probleme in der Ehe, unheilbare Erkrankung, Liebeskummer, Trauer… Die Aufzählung lässt sich beliebig fortsetzen. Das letzte ausschlaggebende Bisschen, das schlussendlich zum Freitod führt, ist häufig ein bestimmtes Ereignis wie Weihnachten, der Geburtstag, Silvester, der Tod eines Bekannten oder gar das Ergebnis eines WM-Spiels.
Die Maslowsche Bedürfnishierarchie
Die psychologische Erklärung für den Suizidversuch liegt in der Störung der individuellen Grundbedürfnisse. Die verschiedenen Grundbedürfnisse der Menschen sind in der Maslowschen Bedürfnishierarchie systematisch zusammengefasst. Danach hat jeder Mensch verschiedene Arten von Bedürfnissen. Ganz unten in der Pyramide stehen essentielle Dinge wie Luft zum Atmen, Wasser, Nahrungsmittel, Schlaf und Sex. Sind diese Bedürfnisse gedeckt, kommen andere Bedürfnissen wie finanzielle Sicherheit, medizinische Versorgung, ein Haus/Wohnplatz und Arbeit hinzu. Danach sind soziale und emotionale Bedürfnisse zu nennen. An der Spitze der Pyramide steht schließlich die Selbstverwirklichung.
Nicht anders als woanders
Die Gründe für einen Selbstmord sind erst einmal individuell, wie folgende Beispiele zeigen:
- Vor einigen Jahren beendete die populäre Schauspielerin Choi Jin-sil freiwillig ihr Leben. Sie hatte sich vorher von ihrem Mann getrennt und war alleinerziehend. Das missfiel vielen Menschen in Korea. Denn in einer männerdominierten Gesellschaft ist so ein Lebensstil einer so populären Schauspielerin mehr als ein Makel. Letztlich trieb sie eine böse Verleumdung im Netz zu der traurigen Tat.
- Der ehemalige Vize-Präsident von Samsung Electronics Lee Won-seong nahm sich das Leben, indem er von einem Hochhaus sprang. In seinem Abschiedsbrief war zu lesen, dass er mit dem enormen Arbeitsdruck und mit der hohen Verantwortung nicht fertig wurde.
- Als Eee-tuk (ein Mitglied von der berühmten K-Popband „Big Bang“) seinen Militärdienst leistete, hörte er von dem erweiterten Selbstmord seines Vaters. Sein Vater brachte seine unter Demenz leidenden Großeltern um und tötete sich anschließend selbst. Der Vater von Eee-tuk kam mit der enormen Belastung, sich um seine Eltern zu kümmern, nicht mehr klar.
- Der ehemalige Präsident Roh Moo-hyun sprang von einem Berg in den Tod. Er wollte damit seine Familie vor weiteren Angriffen schützen, die wegen eines Bestechungsgeldskandals im Fokus stand.
Gesellschaftliche Ursachen
Im stark wettbewerbsorientierten Südkorea ist der Leistungsdruck enorm. Bereits im Kindesalter wird man mit dem hohen Druck konfrontiert. Kinder, die mit dem Druck nicht umgehen können, bringen sich selbst um oder versuchen den Druck loszuwerden, indem sie andere schwächere Kinder peinigen. Dies artet manchmal so aus, dass die gepeinigten Kinder sich dann umbringen.
Man hört in Deutschland häufig von Samsung, Hyundai oder LG – also von den großen Konglomeraten Südkoreas – aber man weiß hierzulande kaum, dass nur ein geringer Anteil der Beschäftigten in Südkorea für solche Unternehmen arbeitet. Mittelständische Unternehmen sind in Korea rar. Ein Großteil der Beschäftigten sind daher Selbstständige in den kleinsten Unternehmen – häufig mit Darlehn von Banken finanziert. Wird man krank oder das Geschäft läuft nicht so gut wie geplant, gehen solche Existenzen einfach kaputt. In Südkorea gibt es ein nur sehr schwach ausgeprägtes soziales Netz. Außerdem ist ein persönliches Versagen gleichbedeutend mit einem Gesichtsverlust. So ist es nicht verwunderlich, dass existenzielle Nöte viele in den Selbstmord treiben.
In letzter Zeit liest man immer häufiger über die Selbstmorde unter Senioren. Traditionell sollten die Kinder für ihre Eltern sorgen. Schließlich haben sie sie groß gezogen und alles getan, damit die Kinder eine gute Schule besuchen konnten. Die Kinder haben allerdings selbst Probleme, weil sie Stress auf der Arbeit haben, unter finanziellen Problemen leiden oder hohe Summen für die horrenden Mieten und die Ausbildung ihrer eigenen Kinder aufbringen müssen. Manche Senioren ziehen es dann vor, sich das Leben zu nehmen, anstatt ihr Gesicht zu verlieren und die eigenen Kinder um Hilfe zu bitten. So schrieb die britische Wochenzeitschrift The Economist zu dem Thema einen Artikel mit dem Untertitel „Einsamkeit und Armut sind die Killer“.
Freilich wird die hohe Selbstmordrate von der südkoreanischen Gesellschaft reflektiert. Auch von der Politik gibt es schon seit geraumer Zeit Bemühungen dagegen vorzugehen. Die Park-Administration ist mit dem Ziel angetreten, die Menschen in ihrem Land glücklicher zu machen. Park Geun-hye versucht das vor allem mit der sogenannten kreativen Wirtschaft sowie mit Sozialprogrammen. Das wird meiner Meinung nach nicht einfach werden, da auch in Südkorea die soziale Schere immer weiter auseinander geht und die Reichen nicht bereit sind, ihren immer größer werdenden Reichtum mit anderen zu teilen.
Technische Gegenmaßnahmen
Konkrete Maßnahmen gibt es viele. So wurde die berüchtigte Mapo Brücke in „Brücke des Lebens“ umbenannt und mit dem Geld einer großen Lebensversicherung des Landes so umgestaltet, dass die Selbstmordkandidaten ihr Vorhaben noch einmal überdenken sollen: Auf den Brückengeländer wurden emotionale Bilder und Wörter aufgeklebt, eine Bronzestatue erinnert die Selbstmordkandidaten an die Familie. Außerdem wurde sie mit zwei Nottelefonen ausgestattet. Eines verbindet den Suizidgefährdeten mit einem Psychologen, mit dem anderen kann der Rettungsdienst verständigt werden.
Die Gleise der Bahnhöfe und der U-Bahnhöfe wurden nach und nach mit einer Gleisschutzwand versehen.
Es gibt Bestrebungen für ein Gesetz, das das unsoziale Verhalten (z.B. Verleumdung) von Netizen2 kontrollieren soll. Auch sollen Kinder von Quälerei anderer Kinder durch Aufklärungskampagnen, CCTVs3 und Polizeipräsenz abgehalten werden. Soziale Medien und Webseiten sollen nach Hinweisen durchsucht werden, in denen die Nutzer Selbstmorde ankündigen.
Der junge Mediziner Myung Woo-jae analysierte, dass ein deutlicher Zusammenhang zwischen bestimmten Begriffen in sozialen Netzwerken und Suizidversuchen besteht und meint, dass das Phänomen in Südkorea keineswegs nur ein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem ist. Auf den ersten Blick sind die Taten auf individuelle Probleme zurückzuführen. In der Gesamtheit jedoch hängt die hohe Suizidrate mit der sozialen Struktur in Südkorea zusammen. Kein Land hat in einer so kurzen Zeit solche wirtschaftliche Fortschritte gemacht. Ohne Aufopferung von individuellen Bedürfnissen wäre das gar nicht möglich gewesen. Leider hat die Gesellschaft in dem schnellen Tempo einige Menschen zurückgelassen, die mit dem Tempo nicht mitgekommen sind.
Positive Einstellung zum Leben kann man nicht einfach verordnen und ob eine Lach-Therapie oder Lithium im Trinkwasser generell hilft, um die Suizidrate zu senken, ist nicht einfach zu beantworten. Die Einsicht der Gesellschaft, dass Menschen soziale Lebewesen sind, kann aber wesentlich dazu beitragen, dass manche Menschen nicht bis zum Äußersten gehen müssen. Das fängt mit der Bereitschaft zu teilen an – sowohl materiell als auch ideell. Es gibt in dieser Welt immer mehr Reiche, die immer mehr Reichtum anhäufen. Zugleich gibt es immer mehr Menschen, die von der Armut existentiell bedroht sind. Die leistungsorientierte Gesellschaft ist immer weniger bereit, hilfsbedürftige Menschen zu unterstützen. „Geiz ist geil“ sagt in mehrfacher Hinsicht viel über uns Menschen aus.
Wir sollten nicht unsere Ellenbogen herausfahren und zum Hürdenläufer werden, denn wenn jeder nur an sich denkt, kommen wir einsam und allein am Ziel an.
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