Ist das Leben in Hamburg, Berlin oder Köln zu hektisch für dich? Du bist von der Enge der Stadt genervt und willst dem Alltagsstress entfliehen? Na dann lass uns gehen – nach Südkorea. Dann nämlich wirst du sehen, dass es hier bei uns doch nicht so schlimm ist. „Ppalli-Ppalli“ sagen die Südkoreaner, „schnell-schnell“, und prägen mit dieser Einstellung eine ganz neue Kultur.
Die Zeit ist relativ. Das wissen wir seit Einstein. Sie wird von Mensch zu Mensch und je nach Situation anders wahrgenommen. Für die kleinen Kinder vergeht die Zeit nicht schnell genug, für ältere Menschen geht sie wie im Fluge vorbei, für einen Dorfbewohner in einer Großstadt ist alles sehr hektisch. Die Uhren in den großen Städten der Welt ticken in der Tat etwas anders: Die Menschen sind gehetzter, ungeduldiger und stets unter Zeitdruck. Wer aber glaubt, dass das Leben in Hamburg, Berlin oder Köln schnell sei, hat die Megametropole Seoul noch nicht erlebt.
Der Alltag in Seoul
Viele Touristen aus dem Westen staunen über Seoul, wenn sie die Menschenmenge in der Hauptverkehrszeit sehen. Zielstrebig und schnell sind Arbeiter, Angestellte, Manager und Schüler zur Arbeit und zur Schule unterwegs. Man sollte aber nicht zu lange darüber staunen und mitten im Weg stehen bleiben, denn dann wird schnell angerempelt und erntet bloß Unverständnis. Geduld haben die hektischen Menschen in Seoul nicht.
In der Mittagspause sollte doch etwas Zeit für einen Plausch mit den Kollegen sein? Weit gefehlt. Es ist kaum Zeit, denn der Weg zum nächsten Imbiss, die Warteschlage und der Weg zurück zur Arbeit nimmt schon genug Zeit in Anspruch. Daher müssen die Imbiss-Betreiber flott sein. Sehr flott. Sind sie das nicht, gehen die Gäste dahin, wo es schneller serviert wird.
Ist es Ruhe, wenn Feierabend ist? Die Frage, die sich für viele Menschen in Seoul stellt ist: Was ist überhaupt ein „Feierabend“? Viele arbeiten freiwillig länger, Schüler gehen in die Abendschule und andere gehen einem zweiten Job nach. Und wieder sind sie schnell unterwegs. Alles schnell-schnell, oder wie die Koreaner sagen: „Ppalli-Ppalli“.
Rund um die Uhr etwas zu haben
Die deutsche Autorin Vera Hohleiter betitelte eins ihrer Bücher mit „Schlaflos in Seoul: Korea für ein Jahr“, nicht weil sie ein Jahr Liebeskummer hatte, sondern weil sie wegen des Baulärms kaum Schlaf finden konnte. Ja, in Seoul gibt es keine Nacht; in Südkoreas Hauptstadt ist rund um die Uhr etwas los.
Hast du mitten in der Nacht Heißhunger auf ein frittiertes Hähnchen mit kaltem Bier? Kein Problem. Du gehst einfach zum nächsten Convenience Store an der Straßenecke, die meist durchgehend geöffnet sind. Du hast keine Lust auf den kurzen Weg? Kein Problem: Ein Anruf oder ein paar Klicks auf dem Smartphone reichen aus. Die Wartezeit beträgt weniger als 30 Minuten – dauert es länger, erstatten dir viele Dienstleister sogar die Bestellung!
Die Megametropole
In Seoul leben zirka zehn Millionen Menschen, also rund dreimal so viel wie in Berlin. Wenn die Satelliten-Städte rund um Seoul mit dazugerechnet werden, sind es sogar 24 Millionen Menschen. Der Großraum Seoul zählt zu der sechst-größten Agglomeration der Welt.
Nach dem Koreakrieg (1950-1953) war die heutige Megametropole nur eine kleine Stadt. So lebten 1955 lediglich rund 1,5 Millionen Menschen in Seoul. Mit der Industrialisierung in der 1960ern wurden in Großstädten viele Arbeitskräfte benötigt. Zahlreiche Koreaner, die vor dem Koreakrieg hauptsächlich von der Landwirtschaft gelebt hatten, zogen in die Großstädte. Die Urbanisierung begann. Motiviert durch die ehrgeizigen Vorgaben der Regierung wurden schnell Straßen und U-Bahnlinien errichtet und Apartments hochgezogen. Für die Ästhetik der Bauten und für die Rücksichtnahme auf die Wohnqualität der Menschen war kaum Zeit. Es musste alles schnell gehen, denn das verarmte Land durfte den Anschluss an die entwickelten Länder nicht verlieren. Mit neidischem Blick in Richtung Japan einerseits und mit respektvollem Blick in Richtung Westdeutschland andererseits, hatten die Südkoreaner zwei Vorbilder.
Günstige Arbeitskräfte, nahezu militärische Strukturen in den großen Familienunternehmen (Chaebols), ehrgeizige und zielstrebige Vorgaben der Regierung und die Willenskraft der Bevölkerung konnten das verarmte Land in nur zwei Generationen in ein junges Industrieland transformieren. In Anlehnung an das Wirtschaftswunder in Deutschland sprach man vom Wunder am Han-Fluss.
Großprojekte gehen auch anders
Ob beim Bau des Flughafens Berlin, der Hamburger Elbphilharmonie oder dem Stuttgarter Bahnhof: Immer wieder kommt es in Deutschland zu Verzögerungen von Großprojekten. Über die explodierenden Kosten und begleitende Proteste können viele Deutsche nur ihren Kopf schütteln. Nicht so in Südkorea, wo man Großprojekte knallhart durchzieht.
Die Stadtplaner von Seoul sahen beispielsweise ein, dass die Stadt lebenswerter für die Bürger gemacht werden müsse. Aber Platz für mehr Parks war in dem dicht bewohnten Seoul kaum drin. Also beschlossen sie, eine ganze Straße aufzureißen – jene Straße, die nur dadurch entstehen konnte, weil man einen Fluss, der durch Seoul führte, zubetonieren ließ. Der Fluss sollte wieder belebt werden. Natürlich gab es auch da Proteste. Händler hatten Angst, dass dadurch ihre Kunden wegblieben. Andere hatten die Befürchtung, dass dadurch mehr Staus entstehen könnten. Die Kritik war allerdings unberechtigt, wie die heutigen Erfolge zeigen. Der Cheonggyechoen-Fluss ist eine Attraktion für die Stadtbewohner und Touristen gleichermaßen.
Freilich klappt auch in Südkorea nicht alles reibungslos und schnell. In ziemlich genau acht Jahren und vier Monaten wurde der internationale Flughafen in Incheon (in der Nähe von Seoul) errichtet. Nach der Eröffnung kam es anfangs zu Problemen mit der Gepäckausgabe. Aber kein Problem für die pragmatischen Koreaner: Eilig wurden einige Soldaten für den Gepäckservice rekrutiert – Problem behoben. „Ein Flughafen, der so schnell errichtet wurde, kann ja nicht gut sein?“, könnte man meinen. Doch der Flughafen in Incheon konnte mehrere Jahre hintereinander sehr gute Platzierungen des World Airport Awards erreichen.
Ein größeres Problem hatten die verantwortlichen Beamten der Wasserbehörde, nachdem sie einen riesigen Damm zur Landgewinnung und zum Anlegen eines Süßwasserreservoirs für die Landwirtschaft erschaffen wollten. Es stellte sich heraus, dass die Wasserqualität durch die Aufstauung stets schlechter wurde. Das Wasser konnte nicht länger für die Bewässerung der Landwirtschaft genutzt werden. Alles für die Katz? Nein, dachten sich die Zuständigen und ließen untersuchen, wie man die Wasserqualität verbessern kann. Eine Lösung war es schließlich, das Wasser mit dem Meerwasser zu verbinden, um dadurch einen Wasseraustausch zu gewährleisten. Die Verantwortlichen ließen erst den Damm öffnen und anschließend ein Gezeitenkraftwerk an der Öffnung installieren. Ein Gezeitenkraftwerk nutzt den Tidenhub um die Wassermasse gezielt durch eine Turbine zu leiten und Strom zu generieren. So wurden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Das Sihwa-ho-Gezeitenkraftwerk ist das größte Gezeitenkraftwerk weltweit.
In die Höhe und in die Breite
Die in den Ballungsräumen lebenden Südkoreaner sind stets mit Bodenknappheit konfrontiert. Kein Wunder, dass die Wohnungen in Seoul mit zu den teuersten in der Welt zählen. Vor kurzem ersteigerte Hyundai ein etwa 80.000m2 großes Areal in dem wohlhabenden Gangnam-Distrikt für rund zehn Milliarden Dollar und überbot damit Mitbieter Samsung. Die Summe war selbst für Südkoreaner sehr hoch, was wütende Proteste von Hyundai-Mitarbeiter und Aktionären zur Folge hatte.
Nicht überall sind die Wohnungen in Korea so teuer wie in Seoul. Es gibt natürlich auch günstigere Wohnungen in ländlichen Regionen oder auf den Inseln. Dort wollen aber die wenigsten leben, da man sich an die hohe Lebensqualität in den Städten gewöhnt hat und dies nicht mehr missen möchte. Also werden hohe Mieten in Kauf genommen.
Weil es so wenig Platz in Seoul gibt, wird ein Hochhaus nach dem anderen hochgezogen. Zurzeit entsteht in Seoul eines der höchsten Gebäude der Welt: Der Lotte World Premium Tower. Während die Bauarbeiten auf den höheren Stockwerken noch andauern, sind die unteren Etagen bereits in Betrieb genommen worden – und das, obwohl die Nachbarn über Sinklöcher in der Umgebung geklagt hatten.
Doch es geht in Südkorea nicht nur in die Höhe. Wenn möglich wird auch in die Breite gebaut. So wurde an der Westküste Incheons ein riesiges Areal aufgeschüttet, um eine künstliche Bodenfläche hinzuzugewinnen. Das war schließlich die Grundlage für die neue Stadt Song Do. Die Besonderheit dieser Stadt ist, dass sie von Grund auf generalstabsmäßig als eine Smart City geplant wurde. Für die Bewohner soll der Zugang zur Infrastruktur noch bequemer werden. So gibt es in der Stadt ein besonderes Entsorgungssystem für Hausabfälle. Die Hausabfälle werden durch ein riesiges Rohrsystem von der Zentrale abgesaugt. Dadurch sind Müllwagen überflüssig. Außerdem sind alle Wohnungen mit einer Smart Home-Technik ausgerüstet.
Tim Hnkels zeigt im folgenden Video, wie so eine Wohnung aussieht:
Schnell ist nicht schnell genug
Eine lange Schlange vor einem Ticketschalter ist der reinste Horror für jeden Seouler. Noch vor zehn Jahren waren in der U-Bahn kleine Tickets aus Papier üblich, die jeder Fahrgast in einen Automaten im Eingangsbereich der Gleise stecken musste. Blitzschnell saugte der Automat die Fahrkarte ein und ließ den Fahrgast passieren. Doch für die Seouler Metrobetreiber war das anscheinend immer noch zu langsam. Sie führten das sogenannte T-Money ein, ein Bezahlsystem mit RFID/NFC-Technik. Dabei hält man eine Karte beziehungsweise ein Smarphone mit passender App über einen Empfänger bis ein akustisches Feedback ertönt. T-Money wird auch in vielen Convenience Stores, Bussen- und Taxen akzeptiert. Das bargeldlose Bezahlsystem hat auch einen weiteren Vorteil – Die Verkehrsplaner können die Fahrverhalten ihrer Fahrgäste analysieren und so die Strecken- und Fahrzeitenplanung optimieren, um die Fahrgäste noch schneller an ihr Ziel zu befördern.
Für normale Einkäufe verwenden Südkoreaner jedoch eher die Kreditkarte. In keinem anderen Land wird mehr per Kreditkarte bezahlt als in Südkorea. Damit toppt das kleine Land sogar USA und Kanada, wo üblicherweise fast alles per Kreditkarte bezahlt wird.
Seoul hat nicht nur eines der am besten ausgebauten U-Bahnnetze der Welt, sondern auch eine hervorragende Internet-Infrastruktur. Sie zählt zu den schnellsten der Welt. Während in Deutschland selbst in Großstädten nicht überall die schnelle Internetverbindung LTE verfügbar ist, gibt es in Südkoreas Großstädten bereits LTE Plus. Selbst die zahlreichen Inseln sollen nach und nach mit schneller Internet-Anbindung versorgt werden. Da ist es nicht weiter erwähnenswert, dass die U-Bahnhöfe und die U-Bahnwagons sowie die Intercity-Züge mit kostenlosen WLAN-Spots versehen sind.
Schneller schreiben und rechnen
Die Südkoreaner sind nicht nur schnell unterwegs, sondern schreiben im Schnitt auch schneller am Computer und Smartphone als die Menschen im Westen. Die Anordnung der Buchstaben der Tastatur ist so aufgebaut, dass mit der linken Hand die Konsonanten und mit der rechten Hand Vokale geschrieben werden kann. Hinzu kommt, dass das Hangeul keine Klein- und Großschreibung kennt. Und Artikel kennt die koreanische Sprache ebenfalls keine.
Auch mit Zahlen sind die Koreaner geschwind. Die Namen der Ziffern sowie der Potenzen sind alle einsilbig und die umständliche Umdrehung der vorletzten Ziffer wie im Deutschen – wie „einundzwanzig“ – gibt es in der koreanischen Sprache nicht.
Anfang der 1980er waren in Südkorea private Nachhilfeschulen verboten. Die damalige Regierung wollte, dass alle Schüler gleiche Bildungschancen genießen sollten. Nicht verboten waren hingegen Schulen, die keine schulischen Fächer lehrten. So schossen zahlreiche privaten Schulen für Rechnen mit Abakus wie Pilze aus dem Boden. Ein Abakus ist ein in Ostasien verbreitetes Rechenunterstützungsgerät. Verschiebbare Kugeln sind auf Schienen angeordnet. Einige Schüler trieben die Kunst mit dem Rechnen so weit, dass sie schneller mit Abakus rechnen konnten als die meisten mit Taschenrechner. Meister dieser Rechenkunst kamen sogar ohne Abakus aus. Wie schnell das Rechnen mit einem virtuellen Abakus geht, zeigt die neunjährige Samantha im folgenden Video:
Auch wurden zahlreiche Lehrbücher veröffentlicht, die schnelles Lesen beibrachten. Komiker machten Witze über die schnellen Leser, die keine Bücher mehr zu kaufen brauchten, weil sie bereits im Laden alles durchlesen konnten.
Die Ppalli-Ppalli-Kultur
Es dürfte deutlich geworden sein, dass die schnelllebige Ppalli-Ppalli-Kultur der Südkoreaner durch die ehrgeizige Vorgabe der Regierung forciert wurde. Zum anderen ist der hohe Grad an Wettbewerb ein Grund für den schnellen Alltag. Nimmt eine Firma einen Auftrag nicht an, so ist rasch ein Mitbewerber zur Stelle. Ist ein Verkäufer unfreundlich, so geht der Käufer einfach zum Nachbargeschäft. Die Behörden fördern den Wettbewerb. So gibt es zahlreiche Geschäfte an nur einer Straße, die alle Produkte der gleichen Kategorie verkaufen. Als Folge davon müssen die Händler sich durch besondere Serviceleistung von ihren Mitbewerbern abgrenzen oder preislich nachgeben.
Übrigens: In Südkorea gibt es zwar das Wort „Service“, womit jedoch etwas anderes als hierzulande meint: Unter „Service“ verstehen Südkoreaner eine kostenlose Zugabe zu einem Kauf. Diese Art der Serviceleistung wird ganz groß geschrieben. Und wer denkt, dass das Wettbewerbsdenken bei den Geschäftsleuten endet, der irrt: diese Art des Konkurrenzkampfes zieht sich bis ins Familienleben durch. Hat Herr Kim ein deutsches Auto gekauft, dann muss sein Nachbar Lee auch eins kaufen – am besten ein noch Größeres – auch wenn dafür ein Kredit aufgenommen werden muss.
Das Wunder in Südkorea galt nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Die zahlreichen blutigen und tränenreichen Studentenbewegungen und Proteste der Gewerkschaften und Bürgern zwangen Ende der 1980er Jahren die Militärregierung zur Aufgabe. Südkorea gehört heute zu dem Land Asiens mit dem höchsten Demokratisierungsindex. Angesichts der aktuellen Bürgerkriege und sozialen Probleme in vielen Ländern, in denen Diktatoren verdrängt wurden, und weil Südkorea den demokratischen Wandel so schnell geschafft hat, könnte man tatsächlich von einem Wunder sprechen.
Politik mit Turboantrieb
Wundern können sich viele Deutsche auch darüber, wie schnell die koreanische Regierung handelt. Lange Zeit wurde in Südkorea kritisiert, dass der Tabakkonsum aufgrund der niedrigen Steuern sehr hoch ist. Daher wurden in den letzten Jahren Rauchverbote in öffentlichen Gebäuden und Plätzen eingeführt. Seit Anfang dieses Jahres ist sogar das Rauchen in jeglichen Bars, Restaurants und Cafés untersagt. Zusätzlich wurden bei den Zigarettenmarken Bezeichnungen wie „light“ und „mild“ verboten. Die Tabaksteuer wurde drastisch erhöht, so dass sich der Preis für Tabakwaren verdoppelte. In Deutschland ist so eine drastische Steuererhöhung wohl nicht möglich – zumindest nicht beim Tabak.
Nicht nur in der Politik geschieht in Südkorea alles rasch. Selbst die Justiz, die für ihre Gründlichkeit berühmt ist, funktioniert in Südkorea zügig. Die Katastrophe der Sewol-Fähre ereignet sich vor zirka einem Jahr (16. April 2014). Es hat nicht einmal ein Jahr gedauert, bis der Kapitän zu 36 Jahren Haft verurteilt wurde. Für die Verurteilung des Kapitäns der Costa Concordia, Francesco Schettino, hingegen brauchte das italienische Gericht drei Jahre.
Negative Folgen der Ppalli-Ppalli-Kultur
Über viele Aspekte der Ppalli-Ppalli-Kultur in Südkorea kann man staunen. In manchen Situationen wäre es sehr wünschenswert, wenn in Deutschland auch etwas schneller geht. Allerdings sollte auch die negative Seite des temporeichen Lebensstils nicht vergessen werden. Ein hochdrehender Turbomotor hält nicht lange durch und ein hellleuchtender Stern erlischt schneller.
Das Wunder am Han-Fluss war nur möglich gewesen, weil viele Menschen aufopfernd auf ihre persönlichen Bedürfnisse verzichtet haben. Viele dieser Menschen sind inzwischen alt geworden. Einige von ihnen leben vereinsamt zurückgezogen in menschenunwürdigen Verhältnissen. Im schnellen Tempo hat die Gesellschaft es nicht geschafft ein ausreichendes soziales Netz für arme Menschen aufzubauen. Es ist auch deswegen so bitter, weil die Koreaner mit ihrer konfuzianischen Tradition im Kindesalter lernen, dass sie auf ihre Eltern achten sollten. Aber anscheinend sind viele nicht in der Lage, weil sie selbst unter hohem Leistungsdruck auf der Arbeit und in der Schule stehen. Früher war es eine Selbstverständlichkeit, dass ein junger Mann sich von seinem Sitz erhebt um einem Älteren den Platz anzubieten. Heute sitzen junge Leute mit ihren Smartphones in der U-Bahn oder erschöpft schlafend – keine Zeit, Platz für Ältere zu machen. Es ist besonders traurig, dass gerade ältere Menschen, die das Land mitaufgebaut haben, vereinsamen und in die Ecke der Gesellschaft gedrängt werden.
Es geht auch langsamer
Bei so viel Tempo im Alltag bleibt vielen Südkoreanern nur wenig Zeit für Ruhe. Doch lange müssen sie danach nicht suchen, denn Südkorea ist ein sehr bergiges Land. Das Land ist mit vielen Bergen durchzogen, wo noch frei von Apartments und Straßen sind. So finden viele gestresste Menschen an Wochenenden beispielsweise durch ausgedehnte Bergwanderungen ihre Ruhe. Tatsächlich ist das Wandern in Südkorea so populär geworden, dass sich die Outdoor-Artikel-Hersteller über den Umsatzanstieg freuen.
Eine andere Möglichkeit zur Ruhe zu kommen ist, der Besuch bei einem der zahlreichen buddhistischen Tempel, die häufig auf Bergen zu finden sind. Wer mehr Zeit und Geduld hat, kann einige Tage im Tempel verbringen und ein gewisses Gefühl für das Leben als Mönch bekommen. Es ist allerdings nicht jedermanns Sache, da es sehr viel Disziplin und Überwindungskraft erfordert. Man muss nicht nur sehr früh aufstehen und den Hof fegen, sondern sich jeden Morgen exakt 108 Mal vor der Buddha-Statue verbeugen. Die karge Mahlzeit besteht aus rein vegetarischen Zutaten und muss restlos aufgegessen werden. Während der Meditation passt ein Mönch mit einem großen Bambus-Stock auf, dass man nicht einschläft. Wenn doch, dann gibt es ein hörbares Geräusch – und ein bisschen Schmerz dazu. Belohnt wird der harte Tag für den Amateur-Mönch mit einem grünen Tee. Dabei sollte man sich freilich viel Zeit lassen. Der Besuch der Tempel ist nicht auf Anhänger des Buddhismus eingeschränkt, sondern ist frei für alle Glaubensrichtungen und Atheisten.
Und wer es lieber christlich mag, der kann den sogenannten „Prayer Mountain“ für Gebet, Meditation und Fasten besuchen. Auch hier ist frühes Aufstehen angesagt: Um 4:30 Uhr beginnt das erste Gebetstreffen. Ob christlich oder buddhistisch, einheimisch oder touristisch: Möglichkeiten der Ruhe, Stille und Besinnung gibt es rund um Seoul reichlich. Und bei all dem Ppalli-Ppalli wird die Ppause-Ppause auch immer wichtiger.
Daniel Höly meint
Kleiner Linktipp: Ihr wollt euch von der – im wahrsten Sinne des Wortes – Schnelllebigkeit Seouls überzeugen? Dann schaut euch aber ganz ppalli-ppalli dieses Timelapse-Video an: https://juiced.de/68321/one-night-in-seoul/