Kreissaal = Kreischsaal
Die Hebammen machen Schichtwechsel. Über den Flur hört man die Ankündigungen weiterer Geburten. Die leitende Hebamme erzählt davon – sie ist für mehrere Kreißsäle gleichzeitig verantwortlich. Die Wehen werden zunehmend stärker. Meine Frau ist nicht mehr ansprechbar. Ich bin zwar da, habe aber keinen Einfluss mehr auf irgendetwas. Zudem wird einem hier die Bedeutung des Wortes Kreißsaal – abgeleitet vom Bestimmungswort „Kreischen“ – sehr eindrucksvoll klar: Es wird gekreischt, geschrien und gestöhnt. Mehr und mehr steigert sich die Stimmung zu einer Mischung aus sich immer wiederholendem, tranceartigem Ritual – auch ich komme mir ab und an wie vernebelt vor. Ein Ritual präziser Anweisungen der wirklich sehr angenehmen und professionellen Hebammen und… Hunger. Mensch hab ich Hunger!
Nachdem die PDA gelegt ist, sitzt meine Frau – ja, jetzt erkenne ich sie wieder – aufrecht im Bett. Sie ist wie verwandelt und erzählt allen von dem Wunder der Geburt, dass ein neues Menschenwesen in die Welt kommt und… sie hat Hunger! Na endlich! Für sie gibt es ein Käsebrot. Sie läuft, den Tropf hinter sich herziehend, durch den Raum, und isst eine Scheibe. Ich halte sie, etwas zittrig ist sie doch, und führe sie wieder zum Bett. Dann mache ich mich über die Reste her. Anstrengend, so eine Geburt.
Es geht weiter. Und mal ehrlich, ich kann nur von außen beobachten. Die Anästhesie lässt langsam nach und alles steigert sich zum unausweichlichen Höhepunkt. Ich sehe, wie meine Frau sich wieder verwandelt, wie ihr Blick ins Leere wandert, dann wieder zurückkehrt und Hilfe in meinem sucht. Ich sehe, wie ihr Gesicht, sonst so zart und frisch, vibriert und altert, Äderchen ziehen dunkle Linien auf ihre roten Wangen, auf ihrem Kleid sind Blutspritzer von der geplatzten Unterlippe. Eigentlich kann ich dem Leben gegenüber sehr ernst sein. Doch der Ernst des Lebens, von dem Väter es so gerne in ihren Reden über Beruf und Zukunftsausrichtung sprechen, trifft mich hier ganz anders. Vielleicht in seiner wahren Bedeutung. Hier wird entstandenes Leben sichtbar. Hier kostet es etwas, Leben zu bringen, Leben zu erhalten.
Es wird Hand angelegt, es wird brutal
Jetzt erst bricht das Fruchtwasser, die Herzfrequenz meines Sohnes sinkt bei jedem Pressen stark ab. Die Hebammen flüstern untereinander. Er bekommt nicht genug Blut, nicht genug Sauerstoff. Es muss schnell gehen. Ein wehenförderndes Mittel wird gespritzt. Eine Ärztin eilt hinzu. Es wird Hand angelegt, es wird brutal. Es wird geschrieen, angeschrieen und zurückgeschrieen. Mit Saugglocke gezogen, per Hand von oben gedrückt. Ich versuche ruhig zu bleiben, aber in mir bricht Angst aus. Mein Anfeuern verändert sich zum leisen Anflehen, mit zittriger Stimme spreche ich meiner Frau zu. Sie antwortet nicht. Schaut nach vorn, dann nach unten. Der kleine, feuchte Kopf ist ganz blau. „Nochmal, nochmal!“ fordert die Hebamme und mit letzter Kraft kommt ein Kind zur Welt, bleich, verschmiert – und es schreit. Kein schöner Schreien hab ich je gehört. Alles löst sich in mir. Ich darf die Nabelschnur durchschneiden, das Kind wickeln und meiner Frau in den Arm legen. Es entfaltet sich ein Lächeln und ihre Augen sind wieder voller Leben und Liebe.
Die Blockade in meinem Kopf ist weg. Diese neue Verantwortung liegt zwar gewichtig auf meinen Schultern, doch ist es zur gleichen Zeit eine große Erleichterung, dass am Ende dieses völlig unbekannten und teils furchteinflößenden Erlebnisses der Anfang eines neuen Lebens steht. Dass es etwas kostest, ernsthaft zu leben, ist mir jetzt klar. Doch scheint es mehr ein Geschenk zu sein und wir haben den geringen Preis schnell vergessen, blicken wir jetzt in das Gesicht unverdienter Lebensfreude. Insgesamt stand ich über zwanzig Stunden im Kreißsaal und habe eigentlich nur zugeschaut. Was zählt, ist wohl, dass ich dabei war.
» Zurück zu Seite 1: Dabei sein ist alles
John K meint
Super geschrieben, David. Bei uns ging es etwas anders, und wie ich so gelesen habe, habe ich auch gemerkt wie meine Frau und ich auch einiges verpasst haben. Wie du sagtest, Leben kostet was. Diese Wahrheit wurde mir auch ganz klar, und jetzt auch mit Erziehen. Grüße an deiner tollen Frau!
David meint
Lieber John, vielen lieben Dank für Deinen Kommentar. Ihr habt ja Eure eigenen Erfahrungen gemacht – und damit sicherlich nichts verpasst!
Tobz meint
Gelungener Artikel David! Die meisten Artikel zu dem Thema sind entweder nicht aus der Sicht eines Mannes geschrien oder zu überzogen humoristisch. Danke für die spannende & ehrliche Beschreibung! Tobz
David meint
Freut mich zu hören, dass es nicht zu humoristisch ist – ein bischen Spass muss ja sein, aber ich hoffe auch, dass deswegen das Ehrliche nicht auf der Strecke bleibt. Danke darum für Deinen Kommentar! Ich hoffe dem weiterhin gerecht zu werden.
Kitschautorin meint
Ich bin nicht schwanger, wünsche mir aber Kinder. Mich umtreiben aber dieselben Sorgen wie dich. Werde ich gut für mein Kind sorgen können? Wie sollen mein Freund, ich und das Kind zusammen überleben?
David meint
Schön, dass Du Dir Kinder wünschst! Das ist wirklich eine erfüllende Sache. Ich will hier keinen Ratgeber spielen, trotzdem wünsch ich Dir Erfüllung Deines Wunsches zur richtigen Zeit – und überleben werdet Ihr es bestimmt auch!
auchpapa meint
Na herzlichen Glückwunsch! Ich finde mich in sehr vielen Punkten des Artikels wieder, sowohl vor als auch während der Geburt, war bei meiner Frau ganz ähnlich.
Jetzt 2 Jahre später kann ich nur sagen, das wird ne geile Zeit! Anstrengend hier und da, aber wenn dich dein Wurm dann anlächelt und dir später „Papaaaaaaaaaa“ rufend entgegegen kommt gibt es nichts besseres mehr auf der Welt.
David meint
Was kann man dazu noch sagen – danke! Ich bin weiterhin gespannt. So ein Kind entwickelt sich offenbar sehr schnell und es gibt fast jeden Tag auch etwas Neues und Schönes zu erleben. Jetzt bin ich auch Papa, wow.
M. Boettcher meint
„Welche Werte möchte ich weitergeben, vorleben?“ „Vorleben“, das ist das eigentliche Problem. Vieles von dem, was hier angesprochen wird, ist nicht von Dauer. Das mit den Windeln z. B. geht relativ schnell vorbei (2-3 Jahre), nach ein paar Monaten kann man wieder leidlich durchschlafen, Vorleben aber ist nahezu ein 24 Stunden Job, etwa 20 Jahre lang. Was man von Kindern verlangt, muss man nämlich selbst erst einmal leisten. Es macht sich z. B. nicht gut, wenn man auf dem Fernsehsessel sitzend, Bier und Fernbedienung in den Händen, von den Kindern verlangt sie sollten nicht immer am PC hängen, sondern ‚mal raus, sich mit Freunden treffen oder Sport treiben. Der Einsatz lohnt sich aber m. E. Man bekommt tatsächlich unglaublich viel zurück.
David meint
Ja, das ist wohl – und man bekommt es ja immer wieder gesagt – was sehr, sehr viel zählt, das „Vorleben“. Leider bin ich ja noch lange kein perfekter Mensch (was ist das überhaupt schon wieder für ne Floskel?) und erwarte auch nicht das irgendwann zu sein. Meinst du, ehrlich zu sein ist noch wichtiger, als allezeit „das Richtige“ vorzuleben? Du hast Kinder? In welchem Alter, wenn ich fragen darf?
Claudia meint
Sehr spannend, eine Geburt mal durch die Augen eines Mannes zu sehen. :)
Ich war bei der Geburt meines Kindes so auf mich, meine Schmerzen und das bevorstehende Ereignis fixiert, dass ich meinen Mann eigentlich kaum wahrgenommen habe. Sicher fühlt man sich beschützt und aufgehoben, wenn der Partner die Geburt hautnah begleitet. Im Endeffekt muss man als Frau aber selbst irgendwie die Schmerzen durchstehen, denn die kann einem niemand wegnehmen. Ich finde es schön, wie du erklärt hast, wie du durch die Geburt die Kostbarkeit eines Lebens erkannt hast. Bei uns war es nicht anders, mit einem Kind im Arm merkt man erst so richtig, welche große Verantwortung man nun eigentlich trägt. Aber auch wie angewiesen das kleine Würmchen auf dich und deine Fürsorge ist, sein Leben liegt sozusagen in deinen Händen. Auch wenn die schlaflosen Nächte und das nervtötende Schreien manchmal anstrengend war, bereue ich das Muttersein in keinster Weise. Ein Kind gibt dem Leben erst Sinn irgendwie, und für die schönen Momente wie das erste Lächeln würde ich alle Strapazen noch einmal auf mich nehmen. In dem Sinne wünsche ich euch ein schönes Eltern-Sein. :)
David meint
Da ist sie wieder, die Verantwortung. Aber wie du sagst, auch ein lebenserfüllendes Privileg. Ein sehr schönes Bild: „Sein Leben liegt in deinen Händen.“ Danke.
Mama notes meint
Wunderschön geschrieben, jetzt sitze ich hier mit zerlaufener Wimperntusche, vielen Dank! ;)
Ja, was zählt ist, dass der Mann dabei war. Total!
David meint
Ein Tag, der das Umkrempeln eines ganzen Lebens symbolisiert – da muss man einfach dabei sein. Schön, dass Du es auch so siehst.
Oliver meint
Wirklich schön geschrieben, danke für diesen Erfahrungsbericht. Und euch dreien alles, alles Gute!
David meint
Danke! Selbst schon diese oder ähnliche Erfahrungen gemacht? Da es bei jedem wohl etwas unterschiedlich verläuft würde mich sehr interessieren, wie es bei dem ein oder anderen von Euch war!
Charlotte meint
Huhu David,
das ist wirklich sehr schön was du geschrieben hast und obwohl ich eine Frau bin, kann ich mich in deinen Ängsten und in deiner Lebenseinstellung sehr gut wiederfinden.
Ich selbst bin erst 21 und bekomme jeden Moment mein erstes Kind :D
Es war mein Wunsch mit meinen Kind zuwachsen und die Freiheit einer Jungen Mama im Studium genießen zu können. Viele Menschen schauen einen komisch an, wenn man mit einer Runden Kugel und anfang 20 etwas von Studium und Karriere erzählt. Gerade auch in meinem Bereich (Film und Fernsehen)
Auch ich frage mich immer wieder was ich mir wohl dabei gedacht habe. Man weiß nie, ob es die richtige Entscheidung war und was man alles verpasst.
Aber das macht das leben doch zu einer ganz besonderen Herausforderung die nur wenige erleben dürfen. Viele können von Saufentouren usw. erzählen…
Aber wir haben die dafür Kinder die uns so vieles mehr geben… mit dehnen wir die nächte gemeinsam durchmachen und Tagsüber durch die Wohnung turnen (ohne schmerzen)
Und wir können den Superman Body passend zu unseren Superman T-Shirt kaufen, ohne schief angeschaut zu werden :D
Zu allen sorgen und ängsten fällt mir mittlerweile nurnoch ein kräftiges und lautes: „Tschakkaaa!!!“, ein.
Viel Glück euch drein :-)