Während der WM 1990 erlebt der frisch gebackene Abiturient Friedemann Hees in einer Frankfurter Kneipe zum ersten Mal, wie Leute an öffentlichen Orten gemeinsam Fußball gucken. Auf das Finale freut er sich daher ganz besonders, doch er muss es getrennt von seinen Freunden gucken: im Wohnzimmer eines langweiligen Dortmunder Pastoren-Ehepaars, das sich kaum für Fußball interessiert.

Der Ort, an dem das Public Viewing erfunden wird – zumindest ein bisschen – steht unter Denkmalschutz. Das „Bodega Barcelona“ ist ein schmales Fachwerkhaus in der Frankfurter Innenstadt, erbaut im 18. Jahrhundert. Die Inneneinrichtung der Kneipe ist dunkel-braun, fast nur Holz, ein wenig düster. Es gibt viele Barhocker und wenig Stühle, nur durch die kleinen Fenster zur Straße hin fällt Licht.
Es werden „Gambas al ajillo“ gereicht, Garnelen mit Knoblauch. Dazu weißer Sangria, genannt „Marihuana“, die Spezialität des Hauses. Es ist das Jahr 1990, das Jahr der Weltmeisterschaft in Italien. Der Wirt hat einen Fernseher in die Ecke gestellt, alle deutschen Spiele live gezeigt. Viele andere Kneipen in Deutschland tun es dem „Bodega Barcelona“ gleich. Gemeinsam Fußballgucken an öffentlichen Orten – das hat es zuvor nicht gegeben. Das Public Viewing ist geboren.
An einem der kleinen Tische sitzt der 20-jährige Friedemann Hees mit seinen Kumpels. Gerade rechtzeitig zur WM haben er und seine Kumpels das „Bodega Barcelona“ entdeckt. Fast alle Spiele der deutschen Mannschaft verfolgen die Freunde dort, der Sangria fließt in Strömen. Wer ein Bier will, geht kurz in die Kneipe nebenan.
„Irgendwie spielen die immer kacke“
Hees hat viel Zeit zum Fußball gucken, denn er ist frisch gebackener Abiturient. Gerade erst hat er seine Zeit an der Anna-Schmidt-Schule in Frankfurt erfolgreich beendet. Eine entspannte Zeit. Da kommt so eine WM natürlich gerade recht. Wobei, so gerne schaut sich Hees die deutschen Spiele gar nicht an. Die Qualifikation hat er als „Krampf“ empfunden, bis zum Ende musste Deutschland um ein WM-Ticket bangen. Angefangen habe es ja schon mit dem peinlichen Ausscheiden bei der Europameisterschaft 1984 – in der Vorrunde. „Irgendwie spielen die immer kacke“, findet Hees.
Doch ab dem 10. Juni ist alles anders: Hees guckt mit seinen Freunden das erste Spiel der Deutschen gegen Jugoslawien. Die Anfangsphase ist zerfahren, es läuft nicht so recht. Das könnte heikel werden, denkt Hees. Doch dann schlägt die große Stunde des Lothar Matthäus. In der 28. Minute bekommt der Kapitän am Rand des Sechzehners den Ball, lässt alle Abwehrspieler stehen und drischt die Kugel unten links ins Eck. Keine Chance für Torwart Ivkovic. Der Bann ist gebrochen, Deutschland dominiert das Spiel, siegt am Ende mit 4:1. Hees kann es nicht fassen. „Wow“, sagt er. „Die können ja kicken!“
Die WM nimmt ihren Lauf, Deutschland gewinnt Spiel um Spiel, niemand kann Matthäus, Völler und Co. stoppen. Hees verfolgt jede Partie, sieht Rijkaard, „das Lama“, wie er ihn nennt. Dazu Gascoigne, „den Suffkopp“. Aber was für ein genialer Fußballer er sei! Und Uwe Bein erst. Nicht nur die Tatsache, dass er bei Hees‘ Lieblingsverein Eintracht Frankfurt spielt. Als Bein seine tödlichen Pässe auspackt, kriegt Hees den Mund kaum noch zu. Die „Geburt von Guido Buchwald“ beeindruckt ihn ebenfalls. Diego Maradona kaltzustellen, das hätten schon viele versucht, weiß Hees. „Aber geschafft hat es keiner.“
Der Pastorensohn darf feiern

Spätestens nach dem Achtelfinale gegen Holland ist er überzeugt: Da brennt nichts mehr an. Oder, wie er es ausdrückt: „a piece of cake“. Der Pastorensohn darf ausnahmsweise sogar ein bisschen feiern. Ein perfekter Sommer. Eigentlich. Denn als Deutschland England im Elfmeterschießen besiegt und tatsächlich ins Finale einzieht, wird Hees klar, dass er ohne seine Freunde gucken wird.
Am 8. Juli 1990 bricht Familie Hees nach dem Gottesdienst in den Sommerurlaub auf. Vater, Mutter und Sohn reisen mit dem Pkw nach Langeoog, eine ostfriesische Insel. Hees hat seinen Eltern versprochen, noch ein letztes Mal mit ihnen in den Urlaub zu fahren. Seine vier Jahre ältere Schwester hat das schon hinter sich und bleibt zuhause – heute würde Hees gerne mit ihr tauschen.
Doch immerhin verpasst er das Spiel nicht. Die Familie übernachtet bei Freunden in Dortmund, ebenfalls Pastoren, die im Gemeindehaus wohnen und ein riesiges Wohnzimmer besitzen. Als Hees den gigantischen Fernseher sieht, scheint der Tag gerettet. Doch der Empfang ist genauso mies wie die Stimmung im Wohnzimmer, denn das Ehepaar hat mit Fußball nichts am Hut, guckt aber etwas widerwillig mit.
Brav und leise
Viel lieber würde Hees raus, in eine Kneipe, auf die Straße, feiern und Fußball gucken, so wie immer in den vergangenen Wochen. Aber aus Respekt vor seinen Eltern und den Gastgebern bleibt er da und sitzt brav bei ihnen im Wohnzimmer. Als der mexikanische Schiedsrichter Edgardo Codesal Mendez in seine Trillerpfeife bläst und das Finale beendet, rennen die Dortmunder raus auf die Straße. In vielen Großstädten Deutschlands feiern die Menschen zusammen, große Massen bejubeln den deutschen Sieg. Die ersten Autokorsos schlängeln sich durch die deutschen Innenstädte.
Nur im Wohnzimmer des Pastorenehepaars will der Funke nicht so recht überspringen. Hees ist der einzige, der laut Jubeln möchte. Er tut es aber nur innerlich. Gefeiert wird auch nicht. Bald geht es ins Bett, am nächsten Morgen wartet schließlich eine anstrengende Autofahrt.
Nach der WM ändert sich Hees‘ Blick auf die Nationalmannschaft völlig. Er guckt so viele Spiele wie möglich, fiebert auch in der Quali mit. Bei der WM 2006 in Deutschland sieht er fast alle Spiele, sitzt sogar einmal im Stadion. Zwar nicht bei einem Deutschland-Spiel, aber bei Paraguay gegen Trinidad und Tobago, immerhin.
Noch immer fußballverrückt
24 Jahre später beißt Friedemann Hees, mittlerweile 43, herzhaft in ein Schnitzelbrötchen und nimmt einen großen Schluck Bier. Er kommt direkt von der Arbeit und hat einen Bärenhunger. Das dünne, rote Haar hat er zur Seite gekämmt. Er trägt eine schwarzes Polohemd, auf seiner Nase thront eine rot-schwarze Brille. Er ist immer noch fußballverrückt, sein bester Freund nennt ihn „eine wandelnde Statistik“. Als er nach seinen Erinnerungen an die WM 1990 gefragt wird, sagt er: „Ich komme mir vor, wie mein Vater“ und lacht herzhaft.
Nachdem Hees fertig gegessen hat, nimmt er sein Bier in die Hand und steht auf. „Ich würde dann mal…“, sagt er. Es ist 20:45 Uhr, das Rückspiel im Champions-League-Halbfinale zwischen Atlético Madrid und dem FC Chelsea beginnt. Das Hinspiel war eine Abwehrschlacht und endete 0:0, heute geht es um alles. Das will sich Hees nicht entgehen lassen.
Sponsored by
Leser-Interaktionen