Für Uwe Bein, den „Mann mit dem tödlichen Pass“, ist die WM 1990 ein ständiges Auf und Ab. Mal steht er in der Anfangself, mal sitzt er auf der Tribüne. Eine Verletzung wirft ihn endgültig aus der Mannschaft.
Es ist einer seiner typischen Momente. Der Ball kommt von links in den Strafraum geflattert, Uwe Bein pflückt ihn aus der Luft und steht plötzlich allein vor Jan Stejskal, dem Torwart der CSFR. Bein täuscht mit rechts einen Schuss an, legt den Ball aber geschickt links am heran rauschenden Torwart vorbei. Bein könnte querlegen auf den freien Jürgen Klinsmann, oder es selbst probieren. Doch Stejskal kann seine Bewegung nicht mehr stoppen und rauscht mit gestrecktem Bein in den deutschen Mittelfeldmotor mit der Nummer 15, nietet ihn gnadenlos um.
Bein rollt über den Rasen, presst die Stirn gegen den Boden. Er fasst sich an den rechten Fuß, schüttelt mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. Sein Blick sagt: „Es geht nicht weiter.“ Stejskal reicht ihm die Hand, holt ihn wieder auf die Beine. Der Torwart entschuldigt sich und gibt zu, es hätte Elfmeter geben müssen. Doch Schiedsrichter Helmut Kohl aus Österreich ist schon längst davon geeilt. Bein versucht, ein paar Schritte zu gehen, doch als er den rechten Fuß belastet, sinkt er gleich wieder ein.
Jürgen Klinsmann schlägt mit der Hand auf den Rasen. Schon wieder kein Strafstoß. Es ist ein zerfahrenes Spiel, das Viertelfinale der WM 1990. Am frühen Abend des 1. Juli beißt sich die Bundesrepublik an der CSFR die Zähne aus. Zwar holt Bein einen Foulelfmeter heraus, den Lothar Matthäus in der 25. Minute zum 1:0 versenkt, doch fortan ist die Begegnung eine einzige Schlacht. Den Tschechen fällt in der Offensive nichts ein, deswegen begnügen sie sich damit, die deutschen Angriffe mit Gewalt zu stoppen. Gerne auch mal im eigenen Strafraum. Klinsmann, Riedle, Brehme – sie alle werden umgenietet, doch der Unparteiische weigert sich, ein zweites Mal auf den Punkt zu zeigen.
Wieder kein Elfmeter
Teamchef Franz Beckenbauer rennt wie von der Tarantel gestochen die Seitenlinie auf und ab. Der deutsche Teamchef ist furchtbar wütend über die nicht gegebenen Elfer, aber auch über das mutlose Spiel seiner Mannschaft. Beckenbauer rauft sich die Haare, rückt seine Brille zurecht, setzt sie wieder auf, gestikuliert wild mit beiden Armen, schüttelt den Kopf. Und nun verletzt sich auch noch Bein. Mit einer dicken Prellung am rechten Fuß muss „der Mann mit dem tödlichen Pass“ kurz nach dem üblen Foul ausgewechselt werden. In der 82. Minute nimmt Andreas Möller seinen Platz ein.
Die WM ist für Bein gelaufen. Dabei war sie bis dato ein einziger Traum für den 29-Jährigen. Nach einer starken Saison bei Eintracht Frankfurt, in der Bein mit seinen gefürchteten Pässen zahlreiche Tore vorbereitet, macht er sich zurecht Hoffnungen auf ein WM-Ticket. Obwohl Bein zum damaligen Zeitpunkt erst sechs Länderspiele bestritten hat, darf er mit nach Italien fahren. Und Beckenbauer hält große Stücke auf ihn: Vom ersten Spiel an gehört er zum Stammpersonal, dirigiert im zentralen Mittelfeld neben Lothar Matthäus das Spiel der deutschen Mannschaft.
Eigentlich hätte hier Andreas Möller spielen sollen. Er und Bein sind gute Freunde, sie stehen in Frankfurt unter Vertrag und teilen sich im Teamhotel ein Zimmer. Die Medien prophezeien: Andy Möller, der große Star der WM 1990. Doch im Endeffekt wird er nur zwei Mal kurz vor Schluss eingewechselt, ein enttäuschender Sommer für den torgefährlichen Mittelfeldspieler. „Das hat ihm nicht gepasst“, sagt Bein. An der Freundschaft zwischen den beiden ändert das jedoch nichts.
Kein Platz in der Kabine
Dabei hat Bein nicht einmal damit gerechnet, so oft zu spielen. Überraschend ist es für ihn trotzdem, als er im hitzigen Achtelfinal-Spiel gegen die Niederlande nicht dabei sein darf. Dass er nicht in der Anfangs-Formation stehen würde, sagt Beckenbauer ihm schon beim Training am Vormittag, „aus taktischen Gründen.“ Doch als Bein mit den anderen Spielern die Kabine betritt, ist kein Platz für ihn eingerichtet. Er sitzt auf der Tribüne. „Zumindest eingewechselt zu werden, hatte ich mir schon erhofft“, sagt Bein. Beckenbauer zeigt später Charakter und entschuldigte sich für sein Verhalten. Im Spiel gegen die CSFR steht Bein wieder in der Anfangsformation, doch kurz vor Schluss ereignet sich der verhängnisvolle Zusammenstoß mit dem tschechischen Torwart. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.
Für das Halbfinale, das bereits drei Tage später stattfindet, fällt Bein aus, das ist schnell klar. Doch am Tag des Endspiels will Bein wieder fit sein. Physiotherapeut Adolf Katzenmeier, DFB-Urgestein, knöpft sich Bein vor. Auch er kommt aus Frankfurt und fühlt sich seinem Patienten deswegen besonders verpflichtet. Katzenmeier massiert ihn von morgens bis abends, und tatsächlich: Rechtzeitig zum Finale ist die Prellung abgeklungen. Doch Beckenbauer ist skeptisch und fragt kurz vor dem Endspiel beim Physiotherapeuten nach, ob Bein „130 Prozent“ fit ist. Da Katzenmeier nicht lügen will, gibt er zu, dass Bein noch nicht komplett geheilt ist.
Beckenbauer spricht Bein auf die Aussage des Physiotherapeuten an. Der Spieler findet zwar, er könne spielen. Aber auch er muss sich eingestehen, dass er nur bei etwa 70 Prozent ist. „Ich hätte mit falschem Ehrgeiz spielen können“, sagt Bein. Er ist jedoch überzeugt, dass Beckenbauer ihm geglaubt hätte, falls Bein gesagt hätte, er sei für einen Einsatz bereit. „Aber da muss man Charakter zeigen“, sagt der Mittelfeldspieler. Beins Platz neben Matthäus nimmt abermals Thomas Häßler ein, der ihn gegen England so gut vertreten hat, dass er für das Finale nicht wegzudenken ist.
Bein will helfen
Während des Endspiels gegen Argentinien sitzt Bein hoffnungsvoll auf der Bank. Er fühlt sich gut, hofft darauf, zumindest eingewechselt zu werden. Deutschland dominiert das Spiel, hat die argentinische Offensive um Superstar Diego Maradona gut im Griff. Es hagelt Torchancen im Minutentakt für die Bundesrepublik, doch der Ball will einfach nicht im Netz landen. Bein denkt, dass er der Mannschaft mit seiner Offensiv-Stärke helfen kann. Beckenbauer glaubt das nicht. Er tätigt nur einen Wechsel: Für den angeschlagenen Thomas Berthold, dem der Ischias zwickt, kommt Stefan Reuter. Ansonsten lässt der Teamchef die Mannschaft so, wie sie ist.
Beins Verhältnis zu Beckenbauer war immer gut. „Ich habe zu ihm aufgeschaut“, sagt der Mittelfeldregisseur. Beim Finale erhält es einen kleinen Knacks. Doch die Wogen glätten sich schnell, Bein verzeiht ihm ein zweites Mal während des Turniers und freut sich einfach über den Titel, an dem auch er einen nicht kleinen Anteil hatte. Als Beckenbauer der Mannschaft nach dem gewonnen Finale das „Du“ anbietet, belässt es Bein aus Respekt beim „Sie“.
24 Jahre später: ein schöner Frühlingsvormittag in Mühlheim. Uwe Bein gastiert mit seiner mobilen Fußballschule beim TSV Lämmerspiel. Er und sein Trainerteam besuchen im Jahr zwischen 30 und 35 Fußballvereine in Hessen, um drei Tage lang das Training zu übernehmen. Die Kinder, zwischen sechs und 15 Jahre alt, haben gerade Mittagspause. Während sie sich im Vereinshaus für die zweite Hälfte des Trainings stärken, nimmt Bein draußen in der Sonne an einem Tisch Platz. Er trägt einen roten Trainingsanzug, dazu eine farblich passende Kappe auf dem Kopf. Vom breiten, schwarzen Schnurrbart, einst sein Markenzeichen, ist nicht mehr viel zu sehen. Bein ist ein gemütlicher Mann, mittlerweile 53 Jahre alt, die Haare und den Bart hat er zu kurzen, grau-schwarzen Stoppeln geschoren. Manchmal trifft er sich noch mit Andy Möller zum Golfen.
Er wirkt zufrieden, erzählt mit Freude von der WM 1990, dem großen Highlight seiner Karriere. „Den Pokal hoch zu halten, was Größeres gibt’s nicht“, schwärmt Bein heute noch. Und dass er das Finale von der Bank aus verfolgen musste, stört ihn heute überhaupt nicht mehr: „Franz hat alles richtig gemacht.“
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