Ausbildung statt Bildung lautet seit 1999 die umstrittene Devise an Europas Universitäten. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, zeigt sich davon wenig begeistert – und nimmt auf 97 Seiten die Bologna-Reform auseinander. Vor allem am Bachelor-Abschluss lässt er kein gutes Haar und verdeutlicht: So kann es nicht weitergehen. Kurzweilig, klug und eloquent zeigt er die aktuellen Bildungsprobleme auf und stellt einige Lösungsansätze vor. Ein lesenswerter Start für alle, die ein Bologna 2.0 für längst überfällig halten.
In drei Etappen habe ich mir das flott gelesene Buch „Bildung statt Bologna!“ zu Gemüte geführt und dabei einige Notizen gemacht. Fast jeder Satz enthält wertvolle Gedanken des Autors, auf nahezu jeder Seiten finden sich zitierfähige Aussagen wieder, was es nicht einfach macht, das Buch zusammenzufassen.
Durchdacht geht er bereits im Vorwort auf die wortgewaltigen Kritiker ein und mahnt zur Differenzierung. Die Kritik…
Die Bologna-Reform führt zur Bildung krimineller Vereinigungen, zum Drogenmissbrauch und zur Täuschung einer ganzen Generation von Studierenden, die mit dem Bachelor glaubten, einen akademischen Abschluss zu erwerben, aus der Sicht der Wirtschaft aber genau diesen nicht besitzen.
… kontert er mit den Worten:
So einfach darf man es sich sicher nicht machen. Gleichwohl sind diese Beispiele paradigmatische Folgen der weitestreichenden Veränderung im deutschen Bildungssystem seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht.
Grund genug, genauer hinzuschauen. Wozu die Bologna-Reform? Dieter Lenzen zufolge war der politische Grund „die Idee der Schaffung eines europäischen Hochschulraums mit hoher internationaler Durchlässigkeit und dem wohl dahinterliegenden Ziel, die Vereinigung Europas voranzutreiben.“ Doch leider sei es versäumt worden, in diesem Einigungsprozess eine europäische Idee von Mensch und Gesellschaft, von Pflicht und Neigung, von Vergangenheit und Zukunft und von Werten zu erarbeiten und zu leben. Im Gegenzug ginge die Aufwertung der Bürokratie Hand in Hand mit der partiellen Entwertung des Studiums. Werteversäumnisse auf der einen Seite, Bürokratieanstieg auf der anderen Seite.
Bachelor, das neue Abitur
Doch der Präsident der Universität Hamburg geht noch einen Schritt weiter:
[…] nach der gleichzeitigen Kürzung der Gymnasialzeit [wurde] in der Hochschule gewissermaßen eine neue gymnasiale Oberstufe geschaffen, die statt mit dem Abitur mit einem BA endet.
Spätestens jetzt sollten wir uns die Frage nach dem Zweck eines Studiums stellen. Der vielzitierte Alexander von Humboldt wollte „eine Einrichtung, die nicht Wissen verwaltet, sondern erzeugt, die wissenschaftliche Grundbildung vermittelt und die Neugier auf Erkenntnis hervorbringt“. So weit, so allgemein. Lenzen versteht unter „Bildung“ vor allem auch den Auftrag zur „Selbstbildung“, was der griechische Dichter Pindar mit dem Satz „Werde, der du bist“ auf den Punkt bringt. Ein Studium sollte also ganzheitlich betrachtet werden. Der Lernende müsse dazu gebracht werden, schreibt Lenzen, eine souveräne Persönlichkeit werden zu wollen, Verhaltenssicherheit und Urteilssicherheit zu entwickeln.
Doch stattdessen seien die Universitäten unversehens zu einer Erziehungseinrichtung geworden, also ganz weit weg von dem, wo sie eigentlich sein sollten.
Filtern gegen die Informationsflut
Bevor wir uns wieder den Universitäten und dem Bologna-Prozess zuwenden, ein kurzes Wort an die Studierenden. Diese müssten Lenzen zufolge lernen, ihr subjektives Gefühl, nicht ausreichend informiert zu sein, zu überwinden. Denn paradoxerweise resultiere dieses Gefühl aus der enormen Informationsfülle, die das Netz zu jedem beliebigen Zeitpunkt ihres Studiums für sie bereithält. „Notwendig ist also die Entwicklung von Routinen, Wahrnehmungsfiltern und Techniken, die ihnen einen selbstbestimmten und selbstbewussten Umgang mit der Informationsflut ermöglichen.“
„Wir haben doch keine Zeit“
Doch das gegenwärtige Bild ist ein völlig anderes: Immer mehr Studenten fühlen sich unter Zeitdruck. Gehetzt, gestresst, ausgebrannt. Auch Dieter Lenzen erkennt und kritisiert diesen Zustand:
Neben all dem Wissen und der Intelligenz und dem Durchhaltevermögen kommt […] in jedem Fall etwas hinzu, was unsere Universität nach Bologna kaum noch bietet: Zeit zu spielen, Zeit für Tagträume und Phantasien, für die Suche nach Lösungen auch für scheinbar abwegige Probleme. Es braucht die Bereitschaft der Universitäten, verrückte Ideen zu respektieren und nicht lächerlich zu machen, und die Möglichkeiten, Autoritäten in einen kritischen Dialog zu verwickeln.
Amen dazu.
Mein Zwischenfazit: Dieter Lenzen hat sehr tiefgehende Erkenntnisse und intelligente Erklärungen angeführt, die die Probleme und ihre Entstehung im universitären Bildungsbereich nachvollziehbar verdeutlichen. Dies ist Voraussetzung, um die erhebliche Abweichung des ursprünglichen Bildungsgedankens auch im Zuge des Bologna-Prozesses und somit die Notwendigkeit einer Überarbeitung aufzuzeigen.
Und obwohl der Präsident der Universität Hamburg auch schwere Themen wie Haltung, Moral und Wahrheit behandelt und dabei der gedankliche Bogen zur heutigen Situation an Universitäten nicht immer leicht fällt – aber zugegebenermaßen doch stets gegeben ist, da alles miteinander zusammenhängt –, schafft er es gekonnt, ein differenziertes und scharfes Bild des abstrakten Themas Bildung zu zeichnen. Einzig seine langen Sätze sind, wie meine beiden vorigen Sätze, zuweilen etwas mühselig und trüben den ansonsten mit eloquenter Sprache erzeugten Lesefluss.
Studierende = Bergarbeiter?
Im dritten Drittel des Buches schwingt Lenzen nochmal kräftig die Kritikkeule an der Bologna-Reform:
Allein das Wort ‚Workload‘ im Zusammenhang mit Lernen zu verwenden und die wöchentliche Lernbelastung auf 40 Stunden zu reduzieren, um für die erfolgreiche Absolvierung der ‚Arbeitsstunden‘ dann den Monatslohn in Form von Credits auszugeben, ist eine derart absurde Perversion der Universitätsidee, dass man sich nicht wundern muss, dass Professoren und Studierende sich so benehmen wie Bergarbeiter, die völlig zu Recht gegen jede Stunde Mehrarbeit und für jeden Cent höheren Lohn kämpfen und streiken.
Viele Bachelorstudenten dürften ob dieses Satzes seufzen und traurig nickend zustimmen. Dabei müsse es doch das oberste Ziel von Universitäten sein, schreibt Lenzen, dass sie integrierte und nicht additive Einrichtungen von allgemeiner Menschenbildung und Berufsbildung seien, zwei Elemente die einander nicht widersprechen dürften. „Wir müssen von jedem akademischen Unterricht erwarten, auch von dem berufsorientierten, dass er einen Beitrag zu allgemeiner Menschenbildung (vulgo: Persönlichkeitsentwicklung) leistet“, fordert Lenzen.
Bildung vs. Ausbildung
Der akademischen Freiheit entgegenstehend sieht Lenzen zwei Entwicklungen: zum einen der nicht mehr ausreichend ermöglichte Kontinuitätsbedarf der Universitäten und zum anderen ausreichend Zeit für kontinuierliche Prozesse innerhalb der Forschung. Die projektorientierte Universität sei Bestandteil und Produkt einer projektorientierten Politik, die sich selbst zunehmend mit den gleichen Phänomenen konfrontiert sehe: Zeitmangel, Burnout, Zustimmungsverlust und Zerstörung des Politischen als Ort des Ausbildens von guten Lösungen in differenzierten Interessenslagen. Damit zeigt Lenzen gekonnt das derzeitige Bildungsproblem auf – und geht noch einen Schritt weiter:
Je mehr wir universitäre Lehre determinieren, ihre Inhalte, die Methoden der Vermittlung und die Verfahren der Leistungsüberprüfung, desto mehr verwandeln wir das, was einmal ein Angebot war, in eine Zumutung. Aus einem Angebot kann man wählen wie in einem intellektuellen Feinkostgeschäft. Bologna dagegen riecht nach Truppenversorgung und Zwangsernährung. (Hervorhebungen durch den Autor)
Und dann:
Da es sich bei den neuen Studiengängen nicht um ein Angebot, sondern um eine Zumutung handelt, kann Bildung in ihnen nicht stattfinden. Mit dem Bologna-Prozess ist das universitäre Geschehen also von einem Bildungs- zu einem Erziehungsprozess geworden. Die Universität ist von einer Bildungsstätte zu einer Erziehungsanstalt mutiert.
Bäm! Doch nach seinen provokanten Aussagen wird er wieder nüchterner und stellt trocken fest:
Die Umsetzung des Bologna-Prozesses hätte nicht zwangsläufig dazu führen müssen, dass aus einer Bildungsstätte eine Erziehungsanstalt wird, wenn man an dem Gedanken stark und unverrückbar festgehalten hätte, dass Wissenschaft in der Universität nicht dazu da ist, Menschen allein berufsfähig zu machen, sondern ihnen dabei helfen soll, einen zu ihnen passenden Platz im Leben zu finden. Und genau das erwarten die – immer jüngeren – Studierenden auch von ihr.
Mein Fazit: „Bildung statt Bologna!“ habe ich gerne und mit Gewinn gelesen. Bleibt zu hoffen, dass Dieter Lenzen mit seinen klugen Gedanken die notwendige Veränderung im universitären Bildungsbereich zu bewirken vermag – und die richtigen Personen zur richtigen Zeit zu diesem Buch greifen und dabei mit der notwendigen Offenheit über das Gelesene nachdenken, um die Erkenntnisse im Anschluss auch folgerichtig umzusetzen. Oder, wie Lenzen es selbst am treffendsten formuliert hat: „Gott sei Dank, so mögen wir sagen, sind die Gedanken frei, und der Wille, ihnen zu folgen, ist es auch.“
Dieter Lenzen, „Bildung statt Bologna!“, Ullstein, 11. April 2014, 112 Seiten, 9,99 Euro, ISBN: 978-3-550-08075-3
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