Mit neunzehn Jahren erlitt Elli Lind* eine Netzhautablösung und erblindete sozusagen über Nacht. Die junge Frau konnte sich nur schwer mit ihrem neuen Leben arrangieren und fiel in ein tiefes Loch. Erst als sie das Lied „St. Elmos Fire“ im Radio hörte, fand sie wieder neuen Lebensmut. Heute arbeitet sie als Sachbearbeiterin, geht gerne wandern und schreibt Krimis. Ihre Doktorarbeit hat sie der beruflichen Situation von blinden und sehbehinderten Menschen am Arbeitsplatz gewidmet.
Die Katastrophe begann mit einem kleinen schwarzen Punkt in Ellis Blickfeld.
Ein kleiner schwarzer Punkt, der sich ausbreitete, als habe Elli eine Wimper im Auge. Schließlich sah sie nur noch einen Regenbogen und die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun. Netzhautablösung, irreparabel, ein schwerer Schlag für ein 19-jähriges Mädchen.
Noch hilfloser als sie selbst wusste Ellis Umfeld mit der Situation umzugehen: Plötzlich traute man ihr nichts mehr zu, schnitt ihr das Brot in kleine Stücke, band ihr die Schuhe zu, aber vergaß gleichzeitig Türe und Schränke zu schließen, so dass Elli sich öfter den Kopf anstieß. Außenstehende sprachen plötzlich nur noch mit ihren Begleitern, selbst wenn sie die kompetente Ansprechpartnerin war. Häufig antworteten auch die Begleiter an ihrer Stelle.
„Ich fiel in ein Loch, das immer tiefer wurde“
Elli war auf einmal für die einfachsten Alltagsdinge auf fremde Hilfe angewiesen, musste lernen sich mit dem Blindenstock auf der Straße zu bewegen, musste lernen wie man ohne Blickkontakt mit fremden Menschen kommuniziert, musste beim Bäcker nach dem Ende der Schlange fragen, während sich die anderen einfach hinten anstellen konnten. Trübsal und Grübeleien wurden ihre täglichen Begleiter, die Depressionen zum Selbstläufer. In Folge darauf zog sie sich selbst immer mehr in ihre eigene Welt zurück. „Ich fiel in ein Loch, das immer tiefer wurde“, sagt sie. „Es schien, als ob ich keinen Boden unter den Füßen hätte.“
Das änderte sich erst, als sie eines Tages das Lied „St. Elmos Fire“ von John Parre im Radio hörte:
Just once in his life a man has a time. And my time is now. I’m coming alive.
Elli empfand die Liedzeile wie ein Schlag ins Gesicht. Sie wusste, sie war an einem Punkt im Leben angekommen, an dem sie sich entscheiden musste: Aufgeben oder sich aus dem Sumpf, in den sie hineingeraten war, herausziehen: „Play the game, you know you can’t quit until it’s won“. Elli beschloss ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen und auch, wenn viele Menschen versuchten sie dabei zu unterstützen, war es letztendlich ihr eigener Kampf, den sie gewinnen musste.
Passen die Socken zusammen?
Elli fand zurück ins Leben, lernte die Welt mit den anderen Sinneseindrücken kennen und lieben. Sie lebte wieder den Alltag, studierte und promovierte in Pädagogik und Psychologie. Heute arbeitet sie als Sachbearbeiterin auf dem Gebiet Familien-, Miet- und Zivilrecht, führt Beratungen durch und fertigt Anträge an.
Mit der Zeit verblassten die Erinnerungen an das Sehen. Trotzdem glaubt Elli noch eine ungefähre Vorstellung von Farben zu haben. „Ob diese jedoch mit der Realität, falls man das bei der subjektiven Wahrnehmung von Farben überhaupt sagen kann, übereinstimmt, weiß ich nicht“, sagt sie. Im täglichen Leben hilft ihr ein kleines viereckiges Gerät, dass Farbmessungen durchführen und ihr mitteilen kann, ob sie zwei gleichfarbige Socken trägt und ob ihre Kleidung zueinander passt.
In ihren Träumen sieht sie
Fremde Menschen lernt sie vor allem anhand dem Klang der Stimme kennen. „Auffällig ist, dass die Stimme von farbigen Menschen einen volleren Klang hat. Menschen aus dem asiatischen Raum dagegen sprechen oft leiser. Die Stimme ist feiner“, sagt sie. Nebengeräusche wie Atmung, der Gang und klimpernde Accessoires helfen Elli fremde Menschen einzuschätzen. Über den Schall kann sie sogar auf die Gestalt ihres Gegenübers schließen: „Ein Mensch schluckt, genau wie ein Gegenstand, Schall. Dort wo er steht, klingt es dumpfer. Das gibt mir einen Anhaltspunkt, ob es sich um eine kleine, dicke oder dünne Gestalt handelt.“
Tagsüber hat Elli keine Erinnerungen an das Sehen. Aber nachts, wenn sie schläft, ändert sich das. „In meinem Traum hat jede Person ein Bild. Ich sehe sie ganz klar vor mir“, sagt Elli. „Ich sehe da alles, wie damals als ich noch gesehen habe.“ Erklären kann sie es selbst nicht, glaubt, dass sich im Traum Bewusstsein und Unterbewusstsein vermischen. „Ich vermute, dass ich, wenn ich von Personen aus meinem heutigen Leben träume, ihnen einfach Attribute von Personen zuordne, die ich kannte, als ich noch sehen konnte“, sagt sie.
Smartphone als Lebenshilfe
Um sich im Alltag zurechtzufinden, kommt Elli die technische Weiterentwicklung zu Gute. „Die wichtigsten Hilfsmittel, wenn ich das Haus verlasse, sind mein Blindenstock und mein iPhone“, sagt sie. Auf der Straße orientiert sie sich zunächst klassisch vor allem an Häuserwänden, Rasenflächen und Bordsteinkanten, die sie als „Leitlinien“ benutzt. Auch achtete sie auf Geräusche und Gerüche.
Wenn sie nicht mehr weiter weiß, kann sie mit ihrem Smartphone auf verschiedene nützliche Apps zurückgreifen. „Befinde ich mich in einer fremden Stadt und möchte wissen wo ich eine Eisdiele finde, öffne ich einfach die App Around me und lasse mir anzeigen, was sich um mich herum befindet“, erzählt sie. „Suche ich ein bestimmtes Gebäude, hilft mir die App Omoby (mittlerweile von Yahoo aufgekauft, Anm.), mit der ich ein Gebäude fotografiere. Dann bekomme ich eine Meldung, um welches Gebäude es sich handelt.“ Die Informationen kann sie sich vorlesen oder über Bluetooth auf einem Gerät in Brailleschrift anzeigen lassen. „So kann ich im Zug Dokumente lesen ohne die übrigen Fahrgäste zu stören“, sagt sie.
Schreiben als Ausgleich
Um ihre Erlebnisse zu verarbeiten und sehenden Menschen die Erlebniswelt eines Blinden näher zu bringen, hat Elli einen autobiographischen Roman geschrieben. In dem Roman fehlen jegliche optischen Eindrücke, dafür werden die verbliebenen Sinneswahrnehmungen der Protagonistin beschrieben. Noch hat sich keinen Verlag gefunden. „Ich nehme an, dass die Sichtweise meines Romans den Verlagen ungewohnt ist. Sie lassen sich nur ungern auf Neues ein, da sie den Markt nicht abschätzen können“, sagt Elli. Derzeit überlegt sie den Roman auf ihrem Blog zu veröffentlichen. Privat nimmt sie zudem an Lesungen teil, schreibt Krimis und Biografien.
In ihrer Freizeit engagiert sie sich ehrenamtlich im Behindertenbeirat der Stadt. Dort setzt sie sich unter anderem für barrierefreien Tourismus ein. „Weil ich selbst gerne reise“, sagt Elli und lächelt dabei.
» Weiterlesen: „Den“ Behinderten gibt es nicht - Ein Interview mit Elli Lind
* Name von der Redaktion geändert
Mirco meint
interessanter Artikel!
Es ist schön, dass Elli ihren Lebensmut wieder gefunden hat. Das Lied kenne ich aus meiner Jugendzeit- ich meine wer kennt das denn nicht?
Mich würde interessieren, wie sie mit dem täglichem Informationsbedarf zurecht kommt. Es gibt ja Vorlesesoftware für Webseiten oder E-Mails aber was ist mit Fernsehen – da hört man ja nur die Dialoge und Geräusche – die Handlungen können ja nur beschrieben werden (Sendungen für Hörbehinderung gibt es ja wenige). „Schaut“ sie solche Sendungen trotzdem?
Falls Sie keinen Verlag findet, sollte sie vielleicht einmal bei Amazon versuchen. Da sind schon einige Autoren berühmt geworden, die zuvor von den Verlagen abgelehnt wurden. Nachher wollten sie sie alle haben. Wie man sieht, sehen manche Verlagsmanager auch nicht viel besser. ;)