Lieber Mark,
ich dachte, ich schreibe dir mal einen offenen Brief. Deine WhatsApp-Übernahme beschäftigt mich nämlich sehr. Und das, obwohl ich weder dein Facebook noch Jan Koums WhatsApp nutze. Aber da gibt es ein paar Dinge, die wirklich ungewöhnlich sind.
Zunächst einmal die Summe von 19 Milliarden US-Dollar. 19.000.000.000 US-Dollar. Seriously? Das ist doch völlig verrückt. Aber was bringt es, das jetzt noch zu sagen? Dadurch fühlst du dich sicher auch nicht besser. Ich will nicht wissen, wie groß der Druck sein muss, der auf deinen Schultern lastet. Im Fußball müssen sich Martinez, Götze und Thiago (alle FC Bayern München) sowie Mesut Özil (FC Arsenal) an ihrer Ablösesumme in zweistelliger Millionenhöhe messen lassen. Du hingegen wirst jetzt an einer Ablösesumme in zweistelliger Milliardenhöhe gemessen werden. Ein Mitarbeiter von WhatsApp kostet dich umgerechnet 380 Millionen US-Dollar. Diesen Marktwert hat selbst Lionel Messi nicht. Puh.
Der immense Druck, unter dem du stehst, hat bestimmt deine Angst verdrängt, die du zuvor hattest, oder? Angst davor, überrannt zu werden, überflüssig zu werden, einsam zu werden. Überrannt von WhatsApp, dem nächsten „big thing“ nach Facebook. Überflüssig zu werden, da man ein irrelevantes, überladenes und unübersichtliches Netzwerk weder braucht noch will. Und Einsam zu werden, weil Facebook das nächste MySpace werden könnte: eine globale Geisterstadt à la Second Life, dem einstigen Megahype im Netz. Oder warum sonst hast du diese astronomisch hohe Summe für die 450 Millionen WhatsApp-Nutzerdaten gezahlt?
Das führt mich zum nächsten Punkt: Der Messenger Viber hat mit seinen weltweit 280 Millionen Nutzern einen Wert von rund 650 Millionen US-Dollar. Wieso ist ein Netzwerk mit nicht einmal doppelt so vielen Nutzern fast 30 Mal so wertvoll? Das will mir einfach nicht reingehen, sorry. Wie gesagt: Dein Druck und deine Angst, die dich dazu verleitet haben, den größten Messaging-Konkurrenten aufzukaufen, bevor er übermächtig werden und dir den Rang ablaufen könnte, müssen immens sein. Wie kannst du eigentlich nachts noch schlafen?
In meinem Alltag hast du jedenfalls für anregende Gespräche gesorgt, wofür ich dir danke. Denn zum einen liebe ich leidenschaftliche Diskussionen. Und zum anderen bietet mir deine Übernahme eine gute Gelegenheit, mal wieder über Sammelwut, Datenschutz und Privatsphäre zu sprechen. Die Menschen sind von den Themen müde geworden, haben sich schon längst entschieden (oder ergeben) und mit dem Übel Facebook abgefunden. Zur Gewissensberuhigung gibt es ja noch alternative Dienste, mit denen man die intimsten Geheimnisse mit seinen Freunden teilen kann. WhatsApp zum Beispiel. Nun aber hast du vielen Leuten die Möglichkeit genommen, eine weit verbreitete und dadurch brauchbare Facebook-Alternative zu verwenden. Das ärgert die Leute.
Und so überrascht es auch nicht, dass die Messenger-Alternativen Threema und Co. seit der Übernahme kräftig an Nutzern zugelegt haben. Das würde mir an deiner Stelle vermutlich zusätzliche Sorgen bereiten – zumindest auf den ersten Blick: Zu sehen, wie schnell es wieder bergab gehen und man mit leeren Händen dastehen kann, ist echt erschreckend. Da fühlt man sich furchtbar hilflos. Aber dann wird mir klar, wieso du dir in diesem Punkt vermutlich keine Sorgen machst:
- Zunächst einmal ist die Empörungs- und Abwanderungswelle vermutlich vor allem im rebellischen Deutschland von größerer Bedeutung, weltweit jedoch eher weniger besorgniserregend.
- Als nächstes sollte man erwähnen, dass die meisten WhatsApp-Alternativen noch schlicht zu wenige Nutzer haben, um Wechselwillige auch tatsächlich zum Bleiben überzeugen zu können.
Hier wäre es aus meiner Sicht sinnvoller, nur eine Alternative zu empfehlen und die Leute darauf aufmerksam zu machen. Mein Vorschlag für diesen Kandidaten kommt aus der Schweiz und heißt Threema.
Aber so lange sich die Aufmerksamkeit der Alternativen auf zu viele Player verteilt, wovon manche aus Russland, Südkorea, Indien oder China kommen, dürftest du hierbei nichts zu befürchten haben. - Das führt mich zum dritten Punkt: die Bequemlichkeit der Nutzer. Im Endeffekt dürften die meisten Nutzer schlichtweg zu faul sein, den Anbieter zu wechseln. Die kritische Masse wird bleiben – und WhatsApp( anschließend wieder) munter weiterwachsen. Als du die Foto-Community Instagram für eine Milliarde US-Dollar übernommen hast, jubelte die deutsche Alternative EyeEm über den Besucheransturm durch entrüstete Protestler und Digitaldemonstranten. Aber heute ist Instagram stärker als je zuvor und EyeEm wird selbst von uns Deutschen nur sporadisch verwendet und früher oder später vermutlich wieder vom Markt verschwinden. Hand aufs Herz: Wie viele von euch, die damals zu EyeEm gewechselt sind oder die App getestet haben, sind heute noch dort?
Was meinen Vorschlag anbelangt, statt zehn WhatsApp-Alternativen nur eine zu empfehlen, gibt es natürlich einen entscheidenden Nachteil. Es dürfte zwar richtig sein, dass langfristig nicht zehn verschiedene Messenger erfolgreich nebeneinander her existieren können, die die Nutzer unter sich aufteilen. Denn dann dürften nur die wenigsten Nutzer zufrieden sein, da in jeder App nur ein Teil des Freundeskreises vorhanden wäre und man nur schwer mit allen Kontakt halten könnte. Und nichts nervt die Nutzer mehr, als ständig die Apps wechseln zu müssen. Aber was würde passieren, wenn beispielsweise die Medienlandschaft geschlossen Threema empfehle und daraufhin tatsächlich die kritische Masse zum Schweizer Anbieter wechseln würde? Dann wäre Threema das nächste WhatsApp und würde als nächster Übernahmekandidat gehandelt werden, nicht wahr? Und wenn dann Google Threema für 20 Milliarden US-Dollar übernehmen würde, wohin würden wir dann weiterziehen? Sprich: Das Spiel könnte sich ständig wiederholen und wir würden irgendwann müde werden, unsere virtuelle Identität ständig von neuem aufzubauen. Was im Grunde schon heute der Fall ist (Das können wir daran erkennen, dass viele Nutzer auch aktuell auf Facebook bleiben, obwohl sie das Netzwerk tierisch nervt oder langweilt). Unsere Bequemlichkeit ist dein Glück, Mark.
Kommen wir zurück zum Gesprächsstoff, den du mir beschert hast: Was habe ich die letzten zwei Tage mit Freunden und Kollegen über diese Übernahme diskutiert. Heiß ging es her und noch heute ist die Welt aus deutsch-subjektiver Wahrnehmung erstaunt, schockiert und verblüfft über deinen Coup. Auch wenn ich mich als Facebook-Kritiker darüber freue, dass die Menschen nicht mit unreflektierten Hooray-Rufen auf diese Übernahme reagieren, ärgert mich doch dabei die Tatsache, dass Facebook und WhatsApp durch die Dauerberichterstattung noch mehr Aufmerksamkeit bekommen. Aufmerksamkeit ist ja bekanntlich – neben unseren Daten – die neue Währung im Netz, wie nichtbezahlte Blogger der Huffington Post schon längst erkannt haben. Und durch diese immense Aufmerksamkeit auf Facebook und WhatsApp werden wie beim Amazon-Skandal mit den schlechten Bedingungen der Leiharbeiter am Ende perverser Weise mehr Menschen eben diese kritisierten Dienste nutzen als vorher. Und auch ich trage mit diesem offenen Brief vermutlich zu diesem Umstand bei. Völlig egal, wie viele Leute diesen Brief hier gut finden und anschließend „liken“ (wie zynisch).
Um mal nicht immer nur auf Facebook und dir rumzuhacken, habe ich auch was für die Nutzer im Gepäck: Was mich bei dieser Debatte ein wenig belustigt, sind diejenigen, die jetzt plötzlich wechseln wollen. Warum jetzt, frage ich mich? Was ändert diese Übernahme eigentlich an der NSA-Überwachung und der Sammelwut der Dienste Facebook und WhatsApp? Wenig bis nichts. Die NSA hat jetzt statt zwei Datenbanken nur noch eine, in der sie die User überwachen kann (=erhöhter Komfort), aber so viel größer war die Schnüffelhürde für den US-amerikanischen Geheimdienst zuvor sicher auch nicht. Halten wir fest: Facebook und WhatsApp waren aus Sicht des Datenschutzes vorher schon höchst bedenklich bis böse, und daran hat sich nach der Übernahme nichts geändert. Warum also JETZT wechseln, liebe Nutzer? Bitte erklärt mir das mal.
Zugegeben: Dass sich einige meiner Freunde seit dem Big Bang tierisch ärgern, plötzlich gegen ihren Willen Teil von Facebook geworden zu sein (manche von ihnen waren nämlich tatsächlich nicht auf Facebook, sehr wohl aber auf WhatsApp), belustigt mich ein wenig. Mir waren beide Dienste schon seit Jahren höchst unsympathisch, weshalb ich sie auch nicht genutzt habe, im Falle von Facebook seit 2009 nicht mehr. Aber meine Schadenfreude könnte schon bald weichen, wenn beispielsweise Twitter eines Tages von Google oder Facebook geschluckt werden würde (was trotz des Börsengangs vom dritten großen Player im Social-Network-Business jederzeit möglich ist). Und überhaupt: Ich bin ja seit geraumer Zeit auf Google+, was im Grunde auch nicht besser ist. Haben wir also alle schon verloren? Uns aufgegeben? Wenn ja, wie konnte das nur so schnell passieren? Wieso gab es vorher keinen Krieg? Aber gegen wen eigentlich? Müssen wir jetzt immer gegen denjenigen sein, der (zu) groß wird? Und den Underdog lieben wie eh und je? Was lernen wir jetzt aus alldem? Fragen über Fragen. Ich freue mich auf deine Antwort, lieber Mark. Spätestens nach dem ersten Like auf deinem Netzwerk erhöht sich die Chance, dass du das hier tatsächlich lesen wirst. Und selbst wenn nicht: Wayne interessiert’s?!
Torsten meint
das ist so ein Artikel, wo ich es wirklich schade finde, dass dein Blog nicht so eine große Verbreitung hat. Oder besonders viele stille Mitleser (wie mich). Da komme ich extra aus dem RSS Feed hierher, um leider keine Meinungen von anderen Lesern zu finden.
Als nicht-Facebook- und WhatsAppnutzer hab ich dazu aber auch keine großartige Meinung… (wobei, der Brief ist ja auch an Mark ;)
JUICEDaniel meint
Herzlichen Dank, Torsten. Geht runter wie Butter, das Lob ;-)
Du hast völlig recht: Wir müssen als nächstes Mal stärker an unserer Verbreitung arbeiten. Was nützt es, aufwendige Artikel zu schreiben, wenn sie am Ende kaum jemand liest? Das Problem: Ist alles nicht so einfach, mit der Verbreitung. So viele Dinge schreien heute nach unserer Aufmerksamkeit, dass man sich kaum noch entscheiden kann, was man als nächstes liest, guckt oder hört. Ja ja, der getriebene Mensch… wäre auch mal ein Artikel wert.
Was du aber gerne machen kannst: Erzähle doch mal zwei, drei Kollegen oder Freunden von JUICED. Und wenn die von der Qualität ebenfalls überzeugt sind und es wiederum anderen weitererzählen, …
JUICEDaniel meint
Genau wie von mir erwartet:
Link: NZZ