Wer Michael Jürgs Buch „Sklavenmarkt Europa. Das Milliardengeschäft mit der Ware Mensch“ liest, fühlt sich mehr als einmal zurückversetzt in eine andere Zeit und an einen anderen Ort. In eine Zeit, wo Menschenwürde und Menschenrechte nichts galten. Und an einen Ort, der der Hölle sehr ähnlich sein muss.
Sklaverei. Menschenhandel. Ein Fass ohne Boden. Erst heute hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) eine aktuelle Studie zur Arbeitsausbeutung inklusive sexueller Ausbeutung veröffentlicht. Weltweit werden laut UN durch Zwangsarbeit Profite in Höhe von 110 Milliarden Euro gemacht. 99 Milliarden davon entstehen durch Zwangsprostitution, heißt es in der Studie der ILO (PDF).
Auch Michael Jürgs, ehemaliger Chefredakteur der Zeitschriften „Stern“ und „Tempo“, ist dieses Thema bei seinen Recherchen rund um den Menschenhandel immer wieder begegnet. Auf 337 Seiten beschreibt er, was er während seiner einjährigen Recherche gehört, gesehen und erlebt hat.
Da geht es beispielsweise um den Scheich, bei dessen Festnahme Jürgs dabei war. Der Scheich hatte mit seinem Geschäftsmodell des Menschenschmuggels satte 406.000 Euro verdient. Unter der Tarnung der Religionsgemeinschaft der Jesiden, führte er in Deutschland ein Reisebüro und schmuggelte unter dem Deckmantel der Hilfe für verfolgte Glaubensbrüder illegal aus dem Irak oder Syrien nach Europa. Das Kopfgeld betrug zwischen 4.500 und 10.000 Euro. Dass sich mit der Verzweiflung gutes Geld verdienen lässt, ist allgemein bekannt. Als Europäer haben wir uns fast schon daran gewöhnt, dass Flüchtlinge vor unserer Haustür ertrinken. In den letzten drei Jahrzehnten dürften zwischen Nordafrika und den Küsten Italiens ungefähr 20.000 Menschen gestorben sein, schreibt Jürgs. Aber was sind schon arme, tote Flüchtlinge? Nichts worüber man sich aufregen müsste.
Jürgs erzählt auch von der schieren Not, die Menschen dazu veranlasst Teile ihres Körpers – Organe – zu verkaufen. Wie zum Beispiel der Tagelöhner aus Bangladesch, der sich für 3.000 Dollar eine Niere entnehmen ließ, die der Zwischenhändler dann für 250.000 Dollar an einen Scheich aus Dubai weiterverkaufte. In dieses dunkelste Feld des Menschenhandels verwickelt sind Krankenschwestern und Ärzte, ist sich Jürg sicher: „Ohne skrupellose Chirurgen wäre Organhandel nicht durchführbar.“ Aber wer will sich empören über Menschen, die ihr Innerstes veräußern müssen? Es sind doch nur Nieren. Und nicht jeder stirbt bei dem Eingriff. Nichts worüber man sich aufregen müsste.
In seinem Buch geht es aber auch um die begehrteste Ware im internationalen Menschenhandel: die Frau. Der Beschaffungsmarkt ist nahezu unbegrenzt – vor allem in Ländern, wo die Verzweiflung und Armut so groß ist, dass Hoffnung als Köder genügt. Mit dem Wenigen, das die betrogenen und vergewaltigten Frauen im westlichen Europa verdienen, können sie immer noch ihre Angehörigen in Rumänien, Bulgarien oder Moldawien ernähren. Die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen ist nicht nur im Westen, sondern auch in Japan, Südkorea, der Türkei und den Golfstaaten so hoch, dass diejenigen, die diese Dienstleistung freiwillig anbieten, sie nie decken könnten. Es werden hunderttausendfach Frauen und Mädchen für die Begehrlichkeiten des Marktes gebraucht. Hier beginnt die Zwangsprostitution, die im Übrigen auch Jungen betrifft. „Es ist kein moralisches Geschäft, aber ein legales“, schreibt Jürgs. Legal, erlaubt, okay. In Rumänien soll es Dörfer geben, in denen es keine einzige junge Frau unter 25 Jahren mehr gibt. Aber wen interessieren Frauen aus den Armenhäusern Europas? Nichts worüber man sich aufregen müsste.
Oder reden wir von Kinderhandel, der offiziell selbst von Staaten geächtet wird, in denen Kinderarbeit nicht die Ausnahme ist. Am schlimmsten sind die Zustände in der angeblich größten Demokratie der Welt: in Indien. Dort werden Kleinkinder für umgerechnet einen Euro verkauft. „Einziger Reichtum der Armen sind ihre Kinder“, schreibt Jürgs. Das gilt auch für Roma-Familien. In Griechenland und der Türkei soll es zwischen 40.000 und 100.000 Kinder geben, die zum Betteln und Klauen abgerichtet wurden. Andere Ziele der Zwischenhändler sind Deutschland, Österreich, Niederlande, Frankreich oder Italien. Dort müssen die Kinder 250 Euro pro 16-Stunden-Schicht abliefern, um keine Prügel zu kassieren. Kinderhandel bringt noch mehr ein als Frauenhandel, weil die Investition oft einer Nullsumme entspricht. Um Mitleid zu wecken und dadurch die Einnahmen zu steigern, werden die Kinder von den Menschenhändlern verkrüppelt. Aber Kinder gibt es ja wie Sand am Meer. Nichts worüber man sich aufregen müsste.
Nicht zu vergessen die Arbeitssklaven, die in verdreckte Hütten ohne Strom und fließend Wasser gepfercht, von morgens bis tief in die Nacht schuften müssen: zum Beispiel beim Bau der Stadien in Katar. Bisher hat es dort 700 Tote gegeben, darunter eine Gruppe von 44 Nepalesen, die einfach verdurstet sind. Präsident des Weltfußballverbandes FIFA, Sepp Blatter erklärte, „man werde „die Problematik“ gegenüber dem Emir thematisieren und das „Gespräch suchen““. Der Internationale Gewerkschaftsbund (ITUC) geht davon aus, dass bis zum Start der WM 2022 4.000 Menschen sterben werden, wenn sich nichts ändert. Menschen sterben, weil sie bei 50 Grad Hitze den ganzen Tag Stadien erbauen, in denen sich die Reichen dann vergnügen können. Aber hey, immerhin bekommen wir unsere Stadien. Nichts worüber man sich aufregen müsste.
Bloß nicht aufregen. Es sind doch nur Menschen
Michael Jürgs hat sehr gründlich recherchiert, war bei Festnahmen dabei, ist innerhalb von Europa gereist und hat mit hohen Beamten von EUROPOL und Co. über die Bekämpfung des Menschenhandels gesprochen. Vieles, von dem, was er schreibt, ist bekannt, ja fast schon altbekannt. Vieles von dem, was er schreibt, wurde schon geschrieben, gesagt oder gesendet. Vieles davon wissen wir bereits. Warum also nochmal darüber schreiben?
Ginge es bei all dem um wertvolle oder seltene Rohstoffe wie Öl, Gold oder Diamanten: Der Westen würde alles in Bewegung setzen, um diese zu retten. „Weil es aber um die Ware Mensch geht, um einen laufend auszuschlachtenden und stets nachwachsenden Rohstoff, steigen die Gewinne auf dem Sklavenmarkt Europa. Jahr um Jahr“, schreibt Jürgs. „Und deshalb muss über die Schande geschrieben werden. Immer wieder.“
Michael Jürgs, „Sklavenmarkt Europa. Das Milliardengeschäft mit der Ware Mensch“, C. Bertelsmann, 10. März 2014, 352 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-570-10187-2
Peter F. meint
Nachwuch droht Gehalt auf Hartz-4-Niveau
Ende der Wohlstands-Ära: Die Jungen werden ärmer als ihre Eltern
http://www.stern.de/wirtschaft/geld/mckinsey-studie–die-jungen-werden-aermer-als-ihre-eltern-6971346.html
oder auch ganz lecker: Verarmung als Megatrend – siehe auch: https://www.berlinjournal.biz/verarmung-kinder-aermer-als-eltern/
Laut Politik müsse man sich „integrieren“ (nach Definition der Politik was das denn angeblich sei). Dazu braucht es in der heutigen Zeit üppige Geldmittel, die die meisten Leute, die angeblich „nicht integriert“ sind (auch sehr viele Deutsche), gar nicht aufbringen können.
Auf einen Zusammenhang stieß die britische Soziologin Marii Peskow in der European Social Survey (ESS): Demnach sei die Bereitschaft zur Wohltätigkeit in egalitären Gesellschaften deutlich schwächer ausgeprägt, als in solchen mit großen Einkommensunterschieden. Die Erklärung dafür liege im sozialen Statusgewinn, den Wohlhabende in ungleichen Gesellschaften erfahren würden, wenn sie Schwächere unterstützten. In egalitären Gesellschaften herrsche hingegen das Bewusstsein vor, dass dank des Sozialstaats für die Schwachen schon gesorgt sei.
Faulheit gilt in den westlichen Industrienationen als Todsünde. Wer nicht täglich flott und adrett zur Arbeit fährt, wer unbezahlte Überstunden verweigert, lieber nachdenkt als malocht oder es gar wagt, mitten in der Woche auch mal bis mittags nichtstuend herumzuliegen, läuft Gefahr, des Schmarotzertums und parasitären Lebens bezichtigt zu werden.
Nein, stopp: Nur die armen Arbeitslosen fallen in die Schublade »Ballastexistenz«. Millionenerben, Banker- und Industriellenkinder dürfen durchaus lebenslang arbeitslos und faul sein. Sie dürfen andere kommandieren, während sie sich den Bauch auf ihrer Jacht sonnen.
Früher glaubten viele Menschen an einen Gott. Wie viele heute noch glauben, da oben säße einer, der alles lenke, weiß ich nicht. Das ist auch egal. Gottes ersten Platz hat im modernen Industriezeitalter längst ein anderer eingenommen: Der »heilige Markt«. Der Finanzmarkt. Der Immobilienmarkt. Der Energiemarkt. Der Nahrungsmittelmarkt. Und der Arbeitsmarkt.
Der Arbeitsmarkt ist, wie der Name schon sagt, zum Vermarkten von Arbeitskraft da. Wer kein Geld und keinen oder nur sehr wenig Besitz hat, verkauft sie. Die Eigentümer der Konzerne konsumieren sie, um daran zu verdienen. Das geht ganz einfach: Sie schöpfen den Mehrwert ab. Sprich: Der Arbeiter bekommt nur einen Teil seiner Arbeit bezahlt. Den Rest verrichtet er für den Gewinn des Unternehmers.
Arbeit verkaufen, Arbeit konsumieren: So geschieht es seit Beginn der industriellen Revolution. Denn Sklaverei und Leibeigenschaft wurden ja, zumindest auf dem Papier, abgeschafft.
Solange Furcht vor Strafe, Hoffnung auf Lohn oder der Wunsch dem Über-Ich zu gefallen, menschliches Verhalten bestimmen, ist das wirkliche Gewissen noch gar nicht zur Wort gekommen. (VIKTOR FRANKL)
Die Todsünde der Intellektuellen ist nicht die Ausarbeitung von Ideen, wie fehlgeleitet sie auch sein mögen, sondern das Verlangen, diese Ideen anderen aufzuzwingen (Paul Johnson)
Der Teufel hat Gewalt, sich zu verkleiden, in lockende Gestalt… (Shakespeare)
Das Heimweh nach der Barbarei ist das letzte Wort einer jeden Zivilisation (Cioran)
Alle Menschen sind klug – die einen vorher, die anderen nachher (Voltaire)
Die Gefahr ist, dass die Demokratie zur Sicherung der Gerechtigkeit für diese selbst gehalten wird (Frankl)
Absolute Macht vergiftet Despoten, Monarchen und Demokraten gleichermaßen (John Adams)
Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer (Schopenhauer)
Unser Entscheiden reicht weiter als unser Erkennen (Kant)
Denn mancher hat, aus Furcht zu irren, sich verirrt (Lessing)
Die Augen gingen ihm über, so oft er trank daraus… (Goethe)
Immer noch haben die die Welt zur Hölle gemacht, die vorgeben, sie zum Paradies zu machen (Hölderlin)
So viele Gefühle für die Menschheit, dass keines mehr bleibt für den Menschen (H. Kasper)
„Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden“ (Helmut Schmidt)