„Der Sommer 1990 war ein schöner Sommer“, sagt Marco Wandura. „Da hat sich ein Eis angeboten.“ Das kam ihm und seinen Kumpels sehr gelegen – die geballte Schadenfreude der frisch gebackenen Weltmeister bekam ein italienisches Eiscafé ab.
Als Marco Wandura am Weltmeister-Eis leckt, bleibt ein bisschen schwarz an seiner Oberlippe kleben. „Ist ganz gut“, sagt er anerkennend und nickt. Die Verkäuferin schüttelt den Kopf. Das ist noch harmlos, im Vergleich zu dem, was sich in der kleinen Küche des Eiscafés Tivoli in Groß-Umstadt abspielte, als Wandura vor 24 Jahren dasselbe bestellte: Schoko, Erdbeer, Vanille. Schwarz, Rot, Gold.
Denn er kam nicht allein: Sechs Freunde hatte der heute 40-Jährige im Schlepptau, und alle bestellten sie ein Eis in den Farben der deutschen Flagge. Für die drei Italiener, die damals im Tivoli hinter der Theke standen, war es eine große Schmach, denn es war der Abend des 8. Juli 1990 und Deutschland war soeben Weltmeister geworden. In Italien.
Doch bis Wandura und seine Freunde am Eiscafé ankamen, musste noch einiges passieren. Aber von vorne.
Fußball-Fan seit er denken kann
1974, im Jahr des zweiten Weltmeistertitels geboren, wuchs Wandura im Groß-Umstädter Stadtteil Richen gegenüber eines Sportplatzes auf. Mit fünf Jahren begann er mit dem Fußballspielen, ließ für das Training sogar seine Lieblingsserie „Wickie und die starken Männer“ sausen. Seit er denken kann, ist Wandura nicht nur Fußball-Fan, sondern auch Anhänger von Bayern München. „Meine erste Erinnerung an den Fußball ist Karl-Heinz Rummenigge, wie er Tore schießt“, erklärt Wandura. „Wenn er bei Paderborn gespielt hätte, wäre das mein Verein.“ Heute verdient der Umstädter sein Geld zum Teil als Musiker und so sieht er auch aus: Die schwarzen Haare locker nach hinten gekämmt, zwei Ringe in den Ohren und eine hölzerne Kette um den Hals.
An den deutschen Sieg bei der Europameisterschaft 1980 in Italien kann sich Wandura, damals sechs Jahre alt, nicht mehr erinnern. Doch die WM 1990 hat er noch genau vor Augen. Die Fußballschuhe hatte er zwar schon einige Jahre davor, nämlich in der C-Jugend, an den Nagel gehängt. Doch die Begeisterung für den Lieblingssport der Deutschen war ungebrochen: Kein WM-Spiel ließen er und seine Freunde sich damals entgehen. Die Vorrunde verfolgte Wandura mit seinen Kumpels zu Hause, eins der Spiele auf einer Party im Odenwald. Schon da wurde ihm klar: Diesmal geht was.
Eng wurde es allerdings im Achtelfinale, als mit den Niederlanden ein äußerst starker Gegner kam. Im Gästezimmer eines Freundes, der mit seinen Eltern in Semd (auch ein Umstädter Stadtteil) wohnte, erlebte Wandura „eines der besten WM-Spiele aller Zeiten“, wie er heute noch sagt. „Das war schon fast ein Finale“, findet Wandura. Doch auch die starken Holländer konnten Deutschland nicht stoppen. Spätestens nach diesem Spiel war die WM für Wandura entschieden. Deutschland wird gewinnen, da war er sich nun sicher.
Zu Fuß zum Marktplatz
Das Finale sah sich die Truppe in Richen an, wo Wandura heute wieder wohnt. Nach dem Abpfiff ging es zu Fuß zum Groß-Umstädter Marktplatz, ein gut 30-minütiger Marsch. Heute ist dort nicht viel los, zumindest an Tagen, an denen kein Markt ist. Ein als Nachtwächter verkleideter Mann trommelt die Teilnehmer einer Stadtführung zusammen. Die große Kirche hüllt einen Teil des Platzes in Schatten. Alte Gasthäuser und Cafés bilden den Rand, in der Mitte steht ein Brunnen. Als Wandura ihn betrachtet, kommen Erinnerungen hoch. Er schüttelt mit dem Kopf. „Da sind sie reingehüpft“, sagt er, „total bescheuert“.
Denn der Marktplatz war 1990 zentraler Treffpunkt für alle feierwütigen Umstädter. Der Autokorso war noch nicht erfunden, doch zahlreiche Fahnen wurden geschwenkt. Wer sich abkühlen wollte, hüpfte kurzerhand in den kleinen Brunnen. Für mehr als eine Handvoll Leute war allerdings kein Platz. Wandura grübelt noch heute über den Sinn dieser Aktion: „Da drin kann man sich ja nicht mal bewegen.“
Vom Marktplatz zog die Gruppe weiter zum Eiscafé, das nur knappe fünf Gehminuten entfernt liegt. „Der Sommer 90 war ein schöner Sommer“, erinnert sich Wandura. „Da hat sich ein Eis angeboten.“ Bei der Zusammenstellung der drei Sorten habe allerdings auch der Alkohol eine kleine Rolle gespielt, verrät er grinsend. So kam es, dass die drei Italiener hinter der Theke ganze sieben Mal Schwarz-Rot-Gold servieren mussten, woraufhin sie in eine heftige Diskussion auf Italienisch verfielen.
„Einfach extrem gut“
Als Wandura heute, 24 Jahre später, mit seinem Eis im Tivoli Platz nimmt, hat er den WM-Sommer 1990 noch gut vor Augen. „Pfügler war der Treter, Littbarski ein bisschen der Buhmann und Mill eigentlich gar kein Nationalspieler“, sprudelt es aus ihm heraus. „Brehme, Matthäus, Völler, Klinsmann“, zählt Wandura auf, „die Mannschaft war einfach extrem gut. Alle spielten auf ihrem höchsten Niveau.“ Und Brehmes Tor gegen Holland erst. Wie er den reingemacht habe! Wandura malt mit den Fingern in der Luft die Flugkurve des Balls nach. „Sensationell“, murmelt er und schüttelt den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben.
„Wir haben wesentlich besser gespielt, als in den Jahren davor“, ist Wandura überzeugt. „Keine Mannschaft hatte es damals mehr verdient“, fasst er zusammen. Vielleicht lag es am Adrenalin, doch nach dem gewonnenen Finale von Rom versprach Bundestrainer Franz Beckenbauer etwas optimistisch, die Nationalmannschaft werde auf Jahre unschlagbar sein. Wandura: „Das haben wir damals geglaubt.“
Leser-Interaktionen