Ich entdecke für mein Leben gern. Doch jetzt sitze ich nach mehreren Wochen Bildretusche immer noch an meinem Schreibtisch. Meine nächste fotografische Aufgabe ist erst in zwei Wochen und davor wartet noch jede Menge Bildschirmarbeit auf mich. Als Blick in die Ferne gönne ich mir darum Thomas Hoepkers Retrospektive in Buchform – Wanderlust. Im Umschlag wird mir eine Welt- und Zeitreise als Augenzeuge versprochen. Das klingt vielversprechend.
Von Hoepkers Laufbahn, seinen verdichteten, über die offensichtliche Botschaft hinaus als eigenständige Bilder funktionierenden Bildern, die inzwischen zum kollektiven Bildgedächtnis gehören, lese ich im Einleitungstext. Dieser Text begeistert nicht. Ein Künstler lobt die Leistungen eines anderen, nur um letztendlich das eigene Metier zu preisen. Doch was mich als Fotograf tatsächlich begeistert und motiviert – und dann doch dem gesamten Text Recht gibt – sind die einfachen Qualitäten von Thomas Hoepker:
(…) solides Handwerk, technisches Können, Schnelligkeit, ein waches Auge. Aber auch Qualitäten außerhalb: Neugier, Passion, Intelligenz und Mitgefühl, Verstand, der Wille aufzuklären.
Und dann das erste Bild. Deutschland. Durch den Schnee läuft eine Frau. Das Bild ist grob-körnig verrauscht, absolut ohne Details. Es besitzt keinen Dynamikumfang. Ein Ausschnitt. Ich kann mich nur an Stichpunkten dieser Geschichte entlanghangeln, aber in meinem Kopf sind Bilder entstanden, Einzelbilder, die diese Geschichte real machen. Es ist meine Großmutter. Das Jahr stimmt nicht, doch sie erzählte mir einmal von ihrer Flucht, mit Säugling, ohne Essen, Fliegerangriffe, im Schnee.
Viele Fotografien in diesem Band sind wertvolle Dokumente der Vergangenheit, die uns – im Gegensatz zu einem Geschichtsbuch – mit subjektiver Sicht aufgenommene Situationen vor Augen führen. Sie zeigen nicht unbedingt was geschah, sondern was den historischen Geschehnissen an Leben folgte. Sie helfen uns, die Spannung zwischen scheinbar unbeeinflussbaren Weltereignissen und dem Leben, das einfach weiter gehen muss, zu begreifen. Mehr als der Blick in die Vergangenheit und mehr als ein höheres Verstehen der zurückliegenden Ereignisse offenbaren diese Bilder das Wesen des Lebens selbst.Es folgen Bilder von Ruinen, Kindern, Italien, der DDR. Straßenszenen, die, wenn auch oberflächlich verändert, heute jeder in Berlin oder in New York beobachten kann. „Raus und Augen auf!“ rufen sie mir zu. Hier beginnt die Laufbahn des jungen Fotografen, hier lässt Hoepker uns seine Anfänge sehen und erlaubt uns somit einen Einblick, den andere sonst gerne verstecken.
Dann Exotisches. Der Schah aus dem Iran, Regenwald in Peru, Norwegische Touristen auf Kamelen in Ägypten. Wieder Beobachtungen.
Einzelbilder des Lebens
Gewöhnliches und Außergewöhnliches werden hier vermischt zu einer Suppe, dem Leben so nah, doch als Buch überwältigend. Von Portraits über Landschaftsaufnahmen hin zu Bildern, die Geschichte schrieben. Dackelnde Pinguine an der Antarktis folgen Fotografien von sowjetischen Panzern in Prag. Danach eine junge Queen Elizabeth II im Wiener Opernhaus, tanzende Hippies in Kalifornien, Marines im Trainingslager, Straßenportrait eines australischen Goldsuchers, Blumendetail und verlassenes Bauernhaus in Irland, Haut und Knochen während Hungersnot in Äthiopien, Pinochet. Diese ersten hundert Seiten sind für den Inspirationsuchenden kaum von Bedeutung.
Dann, auf Seite 130, mit den Jahren 1974-83, wird das Buch endlich farbig und bricht die Schwarz-Weiß-Klammer, die bis hierhin diese unfassbare Mischung des Lebens zusammenzuhalten versuchte. Es sind viele Zeitfenster und Einblicke in ferne Landen auf diesen Seiten. Auch das Formale stimmt. Es sind durchdachte Bilder des Augenblicks. Hier geschieht etwas Besonderes, ein Mehr als bloß der schöne Moment der Ortsbesichtigung. Und noch mehr ist es, als nur Zur-richtigen-Zeit-am-richtigen-Ort. Viele Bilder sind, wenn auch teils Schnappschüsse, künstlerisch anspruchsvoll und verfügen über die Tiefe, die zum Nachdenken über das Leben anregen.
Verwundert statt wandernd
Das Buch als Gesamtes ist aber vor allem die Geschichte des Thomas Hoepker, erzählt anhand einer stichprobenartigen Zusammenfassung seiner Werke. Die Laufbahn des aufgestiegenen Fotografen der 1960er Jahre, der trotz aller Anerkennung weiterhin die Welt aus eigener Neugier heraus zu entdecken suchte. Diesen Charakterzug schätze ich sehr.
Der Titel „Wanderlust“ hatte bei mir einen Nerv getroffen. Doch ich wandere nicht durch dieses Buch, ich wundere mich lediglich darüber, wie ich mit jeder neuen Seite von Ort zu Ort, von Thema zu Thema gezerrt werde. Mit Hoepkers Werk wäre es durchaus möglich gewesen, erschreckende und zugleich wunderbare Bilder aufzubewahren. Es hätte ein Buch werden können, das mich mit jedem Bild aufrüttelt. Nicht mehr Bilder auszusortieren ist ein Fehler, den wir Fotografen gerne machen.
Vielleicht darf man dieses Buch nicht durchblättern, sondern muss sich einfach ab und zu das eine oder andere Bild anschauen. Einfach mal aufschlagen, losgelöst von der Chronologie und der Bilder ringsherum. Dann wieder weglegen. Vielleicht kommt man so zu einer Art tieferem Nachdenken, das der Kontemplation des Wanderns gerecht wird. Vielleicht macht dies aber auch einfach nur einen schönen, langweiligen Bildband für den Couchtisch aus.
Für mich sind es die Bilder des Alltags, des Niemands, des Flüchtigen und der Lebensdetails, die ein Bild jener Welt erkennen lassen, die ich nicht mehr kennenlernen konnte. Das ist mit einigen Fotografien eines einzigen Bildermachers dann doch gelungen. Viele Leben werden in vielen Bildern dokumentiert. Die Bilder zur Wanderlust sind da, man muss sie nur zwischen hunderten anderen in diesem fetten Wälzer finden.
Thomas Hoepker, „Wanderlust – 60 Years of Images“, teNeues, 05. September 2014, 304 Seiten, 79,90 Euro, ISBN: 978-3-8327-9852-9
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