Genug des Motzens, schauen wir uns einige Passagen aus dem Buch einmal näher an:
„Bin ich eine miese Meinungsmetze? Schreibe ich eingekniffenen Schwanzes, aus Angst davor, für dieses Buch von irgendwelchen Blogger Dresche zu beziehen? Ich möchte mir manchmal selbst ‚Ja watt denn nun?‘ zuknurren, und zwar im unversöhnlichen Ton eines dieser einmalig miesgelaunten Berliner Hausmeister…“
Die Antwort auf Ihre Fragen, Herr Rühle, lautet eindeutig „Ja“. Leider. Wobei ich nicht glaube, dass es (nur) die Angst vor den Bloggern ist. Dienen die vielleicht nur als Vorwand?
Auf Seite 118 hat der Autor eine kreative und originelle Idee, die ich lobenswert erwähnen möchte:
„… frage ich mich, wie die Leute wohl reagiert hätten, wenn erst das Netz da gewesen wäre und jetzt, als technische Neuerung, der gedruckte Text dazukäme. Wahrscheinlich würde man ganz ähnliche Euphorien und Ängste auf die Bücher projizieren wie jetzt auf das Internet …“
Was folgt, ist ein wirklich lesenswertes Szenario, das auf drei Seiten Unterhaltung vom Allerfeinsten bietet. Leider eines der seltenen Höhepunkte des Buchs.
Ein zweiter, etwas kleinerer Höhepunkt des Buchs schildert Rühle auf Seite 206, als Rühles Mutter ausversehen das Internet löschte:
„Mein Bruder hatte ihr [der Mutter, Anm.] eine Mail mit einem Anhang geschickt, irgendetwas war beim Öffnen schiefgegangen, jetzt sagte sie im Ton eines schweren Geständnisses: ‚Alex, mir ist was ganz Blödes passiert, ich glaube, ich habe gerade das Internet gelöscht.‘“
Problem diesmal: Der Satz ist einigermaßen netzaffinen Usern schon mehrmals über den Weg gelaufen und bei Suchmaschinen bereits seit 2004 oder 2006 auffindbar.
Ob man heutzutage überhaupt noch offline leben im Sinne von arbeiten kann? Der Autor resümiert am letzten Tag seines Experiments (S. 218):
„Der Tag hat einmal mehr gezeigt, dass das, was ich mache, eigentlich gar nicht geht. Dass ich auf die Hilfe meiner Kollegen angewiesen bin, wenn ich als Diensthaber noch funktionsfähig bleiben will.“
Und genau das ist für mich als Leser so enttäuschend. Das war’s? Das ist alles? Puuh. Ziemlich dünn. Aber hey, könnte man einwerfen, vielleicht ist ja gerade DAS die große Erkenntnis? Dass es ohne Internet einfach nicht mehr geht? Wie ich schon eingangs schrieb: Das war mir schon vorher klar und daher nichts Neues. Bestätigung schön und gut. Aber 252 Seiten sind dann exakt 250 Seiten zu viel.
Mitnehmen werde ich schlussendlich aber doch mehr als nur Langeweile, Frustration und Enttäuschung. Zum Beispiel diesen Gedanken hier (bezeichnenderweise einmal mehr nicht vom Autor selbst):
„Er (Lehrer, Anm.) lacht und ergänzt, er verstehe schon, dass die Schüler so viel ins Netz flüchten, die leben in pädagogisch rundum betreuten Räumen. Wann können die frei spielen, irgendwo draußen, stundenlang, nur für sich? Die sitzen nachmittags in ihren Zimmern und wären gern woanders. Gehen sie halt stattdessen ins Netz.‘“
Immerhin endet das Buch auf Seite 247 nach dem Tipp, Klingeltöne und Popupfenster für neue E-Mails abzuschaffen, ziemlich originell:
„Der Briefträger schwingt sich schließlich auch nicht mit dem Enterhaken übern Balkon in die offene Küche, während man gerade summend am Kochtopf steht.“
Ein herrliches Bild, davon hätte ich mir die 246 Seiten zuvor mehr gewünscht. Enden möchte ich jedoch mit einem Zitat von Anja Pohl, das er in seinem abschließenden Dankeskapitel erwähnt: „Also weißte, dieser theoretische Eintrag im Dezember interessiert mich einen Scheiß.“
Bleibt mir nur die Frage: Nun sag, wie hast du’s mit dem Internet?
Alex Rühle, „Ohne Netz: Mein halbes Jahr offline“, Dumont Buchverlag, Oktober 2011, 252 Seiten, 8,99 Euro, ISBN: 978-3832161644
Nachtrag: Am Anfang des Buchs habe ich mich häufig in dem Autor wiedererkannt. Daher fand ich es insofern hilfreich zu lesen, als dass ich mich aufgrund seines Buchs intensiver mit dem Thema auseinandergesetzt habe – und auch besser reflektieren konnte, wie es denn bei mir läuft, wie ich das finde und wie ich gewisse Umstände gegebenenfalls auch ändern kann. Für diesen Anlass kann die Lektüre durchaus hilfreich und empfehlenswert sein.
Ich habe das Buch in den letzten Wochen hauptsächlich auf Zugfahrten gelesen. In dieser Zeit habe ich das Internet ohnehin kaum genutzt, was mir gut tat. Allerdings war das Abschalten können und wollen eine Eigenschaft von mir, die ich auch vorher schon hatte: Einfach mal mehrere Tage (im Urlaub gar Wochen) am Stück radikal offline zu gehen und wieder klarere und längere Gedanken zu fassen. Etwas, das in den sprunghaften Weiten des Internets in der Tat deutlich zu kurz kommt.
Jeppe Rasmussen meint
Ich kann Deinen Schlussfolgerungen nur zustimmen. Das Buch ist sprachlich gut geschrieben, nachher ist man allerdings genauso ratlos wie vorher. Hatte es selbst gelesen, um daraus Profit für ein Seminar über Mediennutzung zu schlagen; das einzige was ich davon hatte, war aber verschwendete Zeit.
JUICEDaniel meint
Freut mich, dass sich deine Einschätzung mit meiner deckt. Auch wenn mich ein gutes Buch zu dieser Thematik natürlich viel mehr gefreut hätte.