Exakt vor drei Wochen begann die Protestwelle in der Türkei, die bis heute andauert. Im Internet ist sie vor allem unter dem Hashtag #occupygezi bekannt. Eine Rede von Ministerpräsident Erdogan am vergangenen Sonntag erinnerte mich an einen Leserbrief von 2004.
Ministerpräsident Erdogan sprach am vergangenen Sonntagabend auf einer Großkundgebung der Regierungspartei AKP zu hunderttausenden Anhängern. Dabei gab er auch den ausländischen Medien Schuld an den Ausschreitungen und warf ihnen vor, ein Zerrbild von der Türkei zu zeichnen. Dabei vergisst ignoriert er aber vor allem eins: das Internet. Dort sorgen nämlich1 tausende Einwohner der Türkei auf eigene Faust für ein deutlich umfassenderes Bild von der aktuellen Situation, als es die ausländischen Medien je hätten abbilden können. Allein auf Twitter verschickten die Demonstranten am vergangenen Wochenende mehrere Millionen Tweets zu #occupygezi.
Über 43.000 Tweets mit #occupygezi in den letzten 60 Minuten. Aktuell über 500 pro Minute.
— ZDF (@ZDF) June 15, 2013
Tear gas in lobby of Divan Hotel in #Istanbul amid police move on #GeziPark. via @AkinUnver http://t.co/hv7g0KbYR9
— Jim Roberts (@nycjim) June 15, 2013
Ja, so heftig ist es hier gerade: Sanitäter in Schutzanzügen, weinende überall. #occupygezi pic.twitter.com/lnV6GW7cFO
— Lenz Jacobsen (@jalenz) June 15, 2013
Spätestens als der Gezi-Park am vergangenen Samstagabend nach mehreren Drohungen seitens Erdogan gewaltsam von der Polizei geräumt wurde, war klar: Die türkischen Proteste werden so schnell nicht vorbei sein.
Erdogan ist ein typisches Beispiel von Politikern, die die Bedeutung des Internets noch nicht erkannt zu haben scheinen. Mein Kollege Tobias Wagner schrieb dazu beim ZDF-Blog Hyperland:
Protest ist jederzeit und überall mit einem Tweet oder Blogeintrag möglich. Überspitzt gesagt: Man lässt sich nicht mehr vorschreiben, über was man zu diskutieren hat, genauso wenig aber auch, wann.
Kurzum: Anno 2013 ist es schlichtweg nicht mehr möglich, die Proteste als das Ergebnis „einer internationalen Verschwörung“ darzustellen, deren Hintermänner Erdogan angeblich kenne und die er in Kürze aufdecken werde. Oder werden am Ende gar Zuckerberg, Page und Brin als die vermeintlichen Drahtzieher präsentiert? Dann wäre Popcorn holen vorprogrammiert.
Leserbrief von 2004
Wie dem auch sei: Unklar bleibt für mich das Ziel des türkischen Ministerpräsidenten. Welche Absichten verfolgt er mit seinem engstirnig-rigorosen Vorgehen, was treibt ihn an, wo will er hin? Ein Leserbrief aus dem Jahr 2004 könnte bei der Suche nach Antworten weiterhelfen:
(Wenn ich mich richtig erinnere, stammt der Leserbrief aus der lokalen Tageszeitung Bergsträßer Anzeiger. Gescannt wurde er am 21.12.2004.)
- seit den Demonstrationen gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks am 28. Mai 2013 in Istanbul ↵
Dick meint
Steiler Artikel…!
Michael meint
Eben erst gelesen – schöner Text. Wie wahr. Durch mein Auslandssemester in Istanbul habe ich die Vorgänge rund um den Gezi-Park sehr eng und emotional verfolgt und sowohl in meinem privaten Blog, als auch auf BASIC thinking kommentiert. Ich bin weiterhin sehr gespannt, wie die Proteste in der Türkei weitergehen. Die Türkei darf ihrer kemalistischen Vergangenheit nicht beraubt werden. Der Laizismus ist der einzige Weg zu wirtschaftlichem Wachstum, mitbegründet durch die Gleichberechtigung der Geschlechter und einen säkularisierten Alltag. Ich drücke der Türkei die Daumen, dass sie ihren Weg findet.