„Wenn wir in uns reinschauen, dann ist da nichts drin. Identität wird konstruiert – nicht gefunden. Identität entsteht durch Feedback.“ Norbert Bolz
Dieses Zitat von Medien- und Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz auf dem Deutschen Trendtag 2009 des Trendbüro Hamburgs brachte mich spontan dazu, mir ein paar Gedanken zu notieren. Ich kann dem Designwissenschaftler und Professor an der TU Berlin in Ansätzen zustimmen, würde es jedoch etwas allgemeiner formulieren:
„Identität entsteht durch ein Gegenüber und durch eine eigene Selbstwahrnehmung.“ Denn wenn ich mich nicht selbst wahrnehme (Selbstreflexion kann dabei hilfreich sein!), existiert zwar irgendwas, nur ich nicht. Ich selbst hätte mich dann nicht entdeckt und würde in einer Rolle leben. Eine Rolle, die von anderen nicht nur beeinflusst (das ist normal), sondern „fremdgesteuert“ oder „fernkontrolliert“ wird. Ist dies der Fall, wird das Schein zum Sein. Doch hundertprozentig funktioniert das nie, meistens ist es nur eine Maske, die sich gut versteckt angepasst hat – ob bewusst oder unbewusst.
Und wie ich schon sagte: Ja, Identität entsteht auch durch ein Gegenüber, das ist meiner Meinung nach zwingende Voraussetzung. Denn ohne ein Gegenüber kann ich nicht wissen, wer ich bin und wozu ich lebe. Ich kann damit noch nicht einmal wissen, dass ich bin (vivo, ergo sum wäre ohne ein Gegenüber nicht möglich). Das führt unweigerlich zur Schlussfolgerung, dass der Mensch an sich ohne ein Gegenüber gar nicht existieren kann.
„Identität wird konstruiert – nicht gefunden?“ – Wieso nicht beides? Zum einen werden wir „extern“ beeinflusst: von der Außenwelt bzw. unserem Umfeld: Familie, Freunde, Beziehungen und Kontakte sowie Medien und Werbung.
Zum anderen werden wir „intern“ beeinflusst, indem wir uns selbst kennenlernen. Indem wir lernen, unser Inneres wahrzunehmen und dabei entdecken, wer wir sind1, inklusive unserer Talente und Grenzen, Stärken und Schwächen. Das führt dann zur Frage, was wir wollen, welche Ziele wir in unserem Leben haben. Eigene Ziele, keine fremdgesteuerten! Und das wiederum kann unserem Leben einen Sinn geben.
Wenn ich in mich selbst reinschaue, dann ist da eine Menge drin. Ob es von mir selbst, anderen Individuen oder einer höheren Macht kommt? Oder gar von allen drei? Was meint ihr?
- möglicherweise auch wo wir herkommen – die Frage nach einer höheren Macht, etwas Übernatürlichem ↵
Kurti meint
Das von Norbert Bolz halte ich für vollkommenen EGO-Schwachsinn!!
Natürlich gibt es eine Bestimmung, eine Berufung für uns.
Wenn wir jedoch immer nur um Geld, Ego und Eitelkeit kreisen, hören und erkennen wir nix. Letztlich ist es auch ein Geschenk, das wir erhalten.
lenni meint
Ich finde es ziemlich krass so etwas von einem Professor zu hören. Schließlich strahlt so ein Prof. doch eine gewisse Glaubwürdigkeit aus!
Er entmutigt in diesem Moment doch all die Leute (und das sind glaub echt nicht wenige), die in Identitätskrisen stecken, stark zu sein und einmal auf sich selbst zu achten. Seine aussage mag für die ersten 10 Lebensjahre vielleicht zutreffen aber spätestens ab 15 wird doch jeder rebellisch und wird zum Eigenbrötler was seine Identität betrifft.
Ich finde es wichtig auf sich selbst zu hören und das Umfeld auch einfach mal zu ignorieren (bis auf die persönlich wichtigsten Menschen) gerade wenn man nicht weiß wieso, weshalb, warum und wohin….gerade heute in dieser schnelllebigen Welt.
Tobias Knobloch meint
Ich denke, das Problem an der Diskussion ist, dass das Zitat von Bolz aus dem Zusammenhang gerissen etwas harscher klingt, als es gemeint ist. Ich habe den Vortrag auf dem Trendtag im Mai 2009 gehört und kann Euch beruhigen: Bolz hat nicht die Meinung vertreten, dass eine Beschäftigung mit sich selbst vollkommen sinnlos ist. Er hat aber – meiner Meinung nach zu Recht – deutlich gemacht, dass in der heutigen Welt der Netzwerke und Communities der Blick in den Spiegel, den jede(r) Gegenüber darstellt, immer wichtiger wird. Der Schriftsteller Milan Kundera hat in seinem Buch „Die Identät“ einmal sehr schön die identitätsbildende Bedeutung von Freunden beschrieben: „Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volumen behält, müssen die Erinnerungen begossen werden wie Topfblumen, und dieses Gießen erfordert den regelmäßigen Kontakt mit Zeugen der Vergangenheit, das heißt mit Freunden. Sie sind unser Spiegel, unser Gedächtnis. Man verlangt nichts von ihnen, außer dass sie von Zeit zu Zeit diesen Spiegel polieren, damit man sich darin anschauen kann.“ Ich denke, in dieser (abgemilderten) Richtung ist die Aussage von Bolz zu verstehen.
Von einem anderen Schriftsteller, Franz Kafka, stammt die Sentenz: „Verkehr mit Menschen verführt zu Selbstbeobachtung.“ Dieser für mich zutreffende Gedanke bestätigt das, was Daniel in seinem Beitrag überlegt hat: dass nämlich für die Identitätssuche sowohl externe Einflüsse als auch regelmäßige Wendungen nach innen konstitutiv sind. Beides ist, wie das Kafka-Zitat deutlich macht, auf das Engste miteinander verwoben.
Dick meint
Ich bin überrascht ob der Gegenstimmen. Aber schön das. (Wundervoller Halbsatz ;-)
„Cogito ergo sum“ ist das Zitat. Deines ergibt auch keinen Sinn, falls du meintest „Ich lebe also bin ich.“ Sicher stimmt es, dass wenn ich lebe ich auch existiere, aber woher will ich wissen, dass ich lebe? Phylosophisch bringt das keinen Mehrwert.
Ich glaube hier besteht zuerst einmal das Problem, das „Identität“ nicht wirklich definiert wurde. Wie würdet ihr Identität definieren?
Karrierebibel meint
Ich glaube, man muss zwischen dem „Ich“ und der „Identität“ genau unterscheiden. Wenn ich Bolz richtig verstehe, meint er mit Identität nicht das Sein, sondern eine Art öffentliche Identität – also das womit das „Ich“ identifiziert wird. Und dazu braucht es in der Tat ein Feedback. Ich bleibe zwar der, von dem ich denke, der ich bin. Aber in der externen Wahrnehmung muss dies nicht meiner Identität entsprechen.
Dick meint
Sorry, aber du hast dich nicht klar genug ausgedrückt: Meinst du (das Bolz meint) das Identität das bezeichnet wer ich bin. Oder meinst du (das Bolz meint), dass Identität das ist wie andere mich wahrnehmen und für wen sich mich halten? Ersteres oder letzeres?
PS: My bad: Es heißt natürlich „philosophisch“.
JUICEDaniel meint
@ all: Karrierebibel und Dick haben ihre Kommentare ohne Kenntnisse des Kommentars von Tobias Knobloch verfasst. Letzterer habe ich eben erst freigeschaltet (die ersten Kommentare erscheinen ja – sofern erwünscht- nie automatisch)
Danke für eure Kommentare so weit, insgesamt sehr anregend. Mein Senf dazu:
Ich muss zugeben, dass auch mir nach Lennis Kommentar der Gedanke kam: „Wie war denn eigentlich der Kontext, in dem das Zitat gefallen ist?“ Weil oftmals verändert das sehr vieles.
Ich selbst hatte es ja im Blog von reqorder.com gelesen, wo das Zitat sogar sehr deutlich durch das Foto hervorgehoben wird – daher von der Bedeutung allem Anschein nach für sich alleine stehen kann (zumindest erweckt es bei mir diesen Eindruck).
Da ich dem Zitat aber nicht komplett zustimmte, wollte ich ursprünglich ein Kommentar dazu schreiben, der in etwa die Ausmaße meines jetzigen Blogbeitrags annahm, sodass ich mich spontan entschied, es gleich selbst zu bloggen – weil ich das Thema spannend und relevant finde.
Am vergangenen Wochenende habe ich mir dann exakt Dicks Frage gestellt: „Was meint er eigentlich mit „Identität“?“ Zuzgegeben, diese Frage hätte ich mir früher stellen können – aber man lernt nie aus und genau darum liebe ich Blogs, um so mit euch ins Gespräch zu kommen und dabei auch dazu zu lernen, Stichwörter „Neugier, Offenheit, Erkenntniserweiterung“ und damit einhergehend „Veränderung“.
Zu den letzten beiden Kommentaren: So wie ich das jetzt verstanden habe, meint Karrierebibel, dass „Bolz meint, dass Identität das ist, wie andere mich wahrnehmen“, also letzteres. Ich hingegen hatte es ursprünglich als ersteres verstanden, dass er damit meint, dass „Identität das bezeichnet, wer ich bin“.
Prinzipiell bin ich auch geneigt, Karrierebibel zuzustimmen. Allerdings stört mich dann noch ein wenig der erste Satz „Wenn wir in uns reinschauen, dann ist da nichts drin“. Denn das zielt für mich eher auf ersteres ab. Klar kann in mir drin keine Fremd- oder Außenwahrnehmung sein, drum heißt der Begriff auch nicht Identität oder etwa Selbstwahrnehmung (was nicht das gleiche ist), sondern Fremd- oder Außenwahrnehmung.
Schauen wir uns die Eingangsdefinition von Wikipedia an, hilft das vielleicht auf der Suche nach „Identität“ weiter:
Meiner Meinung nach führt das aber zur gleichen Frage: Entsteht Identität von innen heraus oder von außen (durch Feedback)? Ist Identität bereits von Geburt an in jedem Menschen oder wirst sie erst mit der Zeit und mit den Erfahrungen konstruiert?
Ich meine: beides. Erneut: „Identität entsteht durch ein Gegenüber und durch eine eigene Selbstwahrnehmung.“ -> Damit meine ich: Zum einen ist die Identität bereits in uns hineingelegt, muss aber erst noch entdeckt werden. Entdeckt werden durch Selbstreflexion und durch einen Gegenüber, intern wie extern. Es bedingt sich also gegenseitig.
Jetzt zu „Karrierebibel“: Man könnte heute demnach auch sagen, dass die Identität, wie sie von AUßEN wahrgenommen wird, sich dank Internet (web2.0 oder gar Social Networks im Speziellen) stark verändert hat bzw. wie es dazu kommt. Wir passen uns immer mehr (an andere) an anstatt wir selbst zu sein. Denn im Web dreht sich immer mehr um Aufmerksamkeit. Wenn du nicht interessant bist, folgen dir nicht die Leute, adden sie dich nicht als Freund, … -> existierst du im Web quasi gar nicht (überspitzt ausgedrückt). Das will keiner, drum versuchen wir unsere Identität so aufzubauen, dass sie den anderen gefällt. Wir passen unser Profil an, treten gezielt coolen Gruppen bei, schreiben nur aufregendes Zeugs und veröffentlichen nur wilde Fotos. Und siehe da, in dem Moment wo das passiert (und das tut es mehr und mehr), stimme ich Norbert Bolz tatsächlich vollkommen zu: „Wenn wir in uns reinschauen, dann ist da nichts drin. Identität wird konstruiert – nicht gefunden. Identität entsteht durch Feedback.“
Und damit denke ich, @ Tobias Knobloch, sind wir auch einer Meinung.
Karrierebibel meint
@Dick: Ich denke, ich habe mich sehr klar ausgedrückt. Und ich meine es so, wie ich es schrieb (und Daniel es verstanden hat). Aber in deiner Übersetzung: letzteres.
eyeIT meint
Ich denke, in dieser Frage müssen wir auch Paul Wlatzlawick („Man kann nicht nicht kommunizieren“) und Schulz von Thun (Kommunikationsmodell) mit in Erwägung ziehen. Alles ist Kommunikation, und je nach dem, in welcher Situation – auch allein – man sich befindet, wird eine andere Botschaft gesandt (Schulz von Thun). Im Extremfall ist ein Monolog ebenfalls eine Kommunikation, auch ohne ein Gegenüber. Insofern glaube ich, dass man so sich selber erfährt und Identität entwickeln kann. Es braucht meiner Meinung nach also etwas, das einer Person ein Feedback gibt.
An eine „höher Macht“ glaube ich nicht.
Dick meint
@karrierebibel: Deswegen war was du schriebst eben nicht klar: „Aber in der externen Wahrnehmung muss dies nicht meiner Identität entsprechen.“ Gegenüberstellung von Identität zur Außenwahrnehmung deutet darauf hin, dass du Identität als etwas Inneres meinst.
@JuicedDaniel: „Entdeckt werden durch Selbstreflexion und durch einen Gegenüber, intern wie extern. Es bedingt sich also gegenseitig.“ Du bist also der Meinung, dass man Innen und Außen nicht unterscheiden kann?
JUICEDaniel meint
Deutsche Sprache, schwere Sprache. ;) Ich zitiere:
Die für dich relevanten Stellen habe ich fett markiert. Falls es dennoch weiterhin unklar sein sollte: Könnte man „Innen und Außen“ nicht unterscheiden, hätte ich das mit Sicherheit nicht so geschrieben.
JUICEDaniel meint
Hier übrigens passend zur Person ein Interview mit Norbert Bolz. Das Wort „Identität“ ist diesmal leider nicht gefallen: Interaktivität im Web: “Das Internet ist kein Massenmedium”