Stellt euch mal die Deutschlandkarte vor. Jetzt schließt ihr eure Augen und tippt auf irgendeine Stelle. Dort könnte Fulda liegen. Und jetzt geht ihr in eurer Fantasie durch die Stadt und sucht euch irgendeine Person heraus. Die könnte Jens Brehl sein. Ein ganz normaler Bürger.1 Mit einer ganz anomalen Geschichte.
Brehl hatte mit 28 Jahren Burnout. Wie es dazu kam, wie es ihm in dieser Zeit erging und wie er da wieder rauskam – das beschreibt er in seinem Buch „Mein Weg aus dem Burnout“. Auf 292 Seiten erzählt er seine ganze Lebensgeschichte, wodurch man die Ursache für die Erkrankung am depressiven Erschöpfungssyndrom sehr gut nachvollziehen kann.
Dass Frauen ihr Leben in 13 Minuten zusammenfassen können, wissen aufmerksame JUICED-Leser bereits. Aber wir Männer, wir können das nicht. Daher will ich auch gar nicht erst versuchen, das Leben von Journalist, Blogger und PR-Berater Jens Brehl an dieser Stelle zusammenzufassen. Dafür gibt es schließlich sein Buch, in dem ihr in nur wenigen Stunden rund 30 Jahre aus seinem Leben nachlesen könnt.
Worüber ich jedoch schreiben möchte, sind Brehls grundlegende Gedanken über Burnout, Leistungsdruck und unsere Gesellschaft. Darüber schreibt er im letzten Buchdrittel – und regt mich damit sehr zum Nachdenken an. Auf S. 205 heißt es:
Ich möchte mit den Vorurteilen aufräumen, depressive Menschen könnten nichts in die Gesellschaft einbringen, da sie unzuverlässig und schwach sind. In Wahrheit liegt in den schwächsten Momenten unsere größte Stärke, auch wenn der Verstand diesen offensichtlichen Widerspruch nicht akzeptieren will.
Der erste Satz richtet sich klar an die Sinnfrage. Wann bin ich etwas wert, was bin ich wert, woher kommt mein Wert? Der zweite Satz mit dem Widerspruch (der aus meiner Sicht eher vermeintlich oder scheinbar ist) beinhaltet eine tiefe Wahrheit, die mich an einen Vers aus der Bibel erinnert: „Lass dir an meiner [Gottes, Anm.] Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
So unterschiedlich die Geschichten meiner damaligen Mitpatienten und anderer Betroffener im Detail auch sind, haben sie eines gemeinsam: Wir glauben bis zu einem gewissen Grad funktionieren und für andere Menschen verfügbar sein zu müssen, um geliebt zu werden und wertvoll zu sein.
Wer die vorigen 213 Seiten des Buches gelesen hat, dürfte über den Wandel von Brehl staunen. Der rational denkende Journalist hat tatsächlich sein Herz entdeckt. Kurz darauf reflektiert er sehr treffend:
Es war lebensgefährlich und leichtsinnig, mich ausschließlich über meine Leistung zu definieren, denn mein System war zum Scheitern verurteilt. Früher oder später wären meine Kräfte aufgezehrt gewesen. Es war alles eine Frage der Zeit, solange ich meinen unbewussten Strukturen, Glaubenssätzen, Prägungen und selbst auferlegten Rollen folgen würde.
Als ihn das Burnout ereilt und nichts mehr geht, ist es ein langer Kampf aus diesem Elend. Doch:
Nach der Schlacht war vor der Schlacht, denn der Krieg war noch lange nicht entschieden. Dermaßen darauf fixiert, im Außen von anderen Menschen anerkannt zu werden, vergaß ich mich selber wertzuschätzen und anzuerkennen – und zwar mich als Menschen und nicht meine Leistungen.
Zwei Dinge fallen mir dazu ein:
- „Alles, was der Mensch tut, tut er entweder aus Angst, Anerkennung oder Nutzen“, sagte mal jemand in einem Vortrag. Ihr könnt euch gerne selbst überprüfen, ob das stimmt.
- „Der Mensch ist gleichwertig, aber nicht gleichartig“, las ich mal in einem schlauen Buch. Diese Unterscheidung hat mir sehr geholfen.
Zugegeben: Alles Philosophieren hilft am Ende des Tages nichts, wenn wir die Miete nicht bezahlen können. Irgendwie müssen wir halt doch unsere Brötchen verdienen. Nur wie? Für Brehl jedenfalls gibt es keinen Weg zurück ins Funktionieren:
Wenn wir einmal ehrlich sind, schaufeln wir uns häufig mit Arbeit zu, um anderen – meist unangenehmeren – Dingen aus dem Weg zu gehen. „Ich habe zu tun“, ist eine bequeme Ausrede. Besonders wenn das eigene Herz verschlossen ist, kann (Verstandes)Arbeit eine Zufluchtsstätte sein. Funktionieren, herstellen und bloß nichts fühlen.
Puh, harter Tobak. Wie oft habe ich schon gesagt, dass ich „leider keine Zeit habe, weil ich (zu) beschäftigt bin“? Hier legt Brehl also seinen Finger mitten in die Wunde. Erfreulicherweise gibt er zwei Seiten weiter einen klugen Ratschlag:
Die Kunst ist es, bewusste Entscheidungen zu treffen, statt sich von unbewussten lenken zu lassen. Wenn ich im Kern nicht weiß, was ich mir wünsche, muss ich wohl oder übel das nehmen, was ich bekomme. In den meisten Fällen wundern wir uns über die Ergebnisse, die wir selber geschaffen haben.
Und weiter schreibt er:
Die Marketing-Industrie hat die innere Leere im Menschen erkannt und suggeriert ihm, er könne sie mit Konsum füllen. Das Hochgefühl hält nur kurze Zeit an, denn Liebe, Glück und Sinn stehen in keinem Verkaufsregal. In der westlichen Welt haben wir uns die Illusion vom grenzenlosen Wachstum erschaffen und solange das Bruttosozialprodukt steigt, ist alles in Ordnung. Komischerweise werden die Menschen dadurch nicht glücklicher.
Wenn aber Konsum nicht glücklich macht – was dann? Vielleicht die freie Zeit? „Bewusst genommene und genutzte freie Zeit ist mitunter der letzte wahre Luxus unserer westlichen Welt. Vom Rest haben wir mehr als genug“, schreibt Brehl, der sich selbst als „Zeitmillionär“ bezeichnet. Das Kuriose dabei:
Viele Menschen tanken in ihrem Jahresurlaub Kraft, die sie nach einer Woche am Arbeitsplatz erneut verloren haben. Nach einem weiteren Monat sind sie wieder reif für die Insel. Sie haben es zwar geschafft, das Hamsterrad kurzzeitig zu verlassen, doch nur, um noch länger darin laufen zu können.
Drei Absätze weiter stellt er daraufhin eine durchaus wichtige Frage:
Die berechtigte Frage steht im Raum, wofür wir uns eigentlich abrackern. Das westliche Wirtschaftssystem ist auf unendliches Wachstum bei endlichen Ressourcen angewiesen. Ein Widerspruch, der allgemein ignoriert wird. Nichts in der Natur wächst ewig. Wenn doch, sprechen wir von Krebs.
Na, habe ich zu viel versprochen? Da stecken durchaus jede Menge wertvolle Gedanken in den 292 Seiten, die darauf warten, von euch gelesen zu werden.
Mein Fazit: Alle Achtung vor dem Mut von Jens Brehl, uns so offen und ehrlich tiefe Einblicke in sein Leben zu geben – und nicht nur in die schönen Seiten seines Lebens. Hollywood-Filme haben ja meistens ein verträumtes Happy End, das ein gutes Gefühl bei den Zuschauern hinterlassen soll. Doch häufig frage ich mich: „Wie geht es weiter? Jetzt geht’s doch erst richtig los.“ Den herausfordernden, mühseligen und oft auch langweiligen Alltag will in der Regel keiner sehen. Brehl hingegen stellt sich dieser Herausforderung und beschreibt sehr schön, wie er auch nach der überwunden Tiefphase wieder neue Zweifel, Ängste und Unsicherheiten verspürt hat. Kurzum: Er verschweigt die unbequeme Wahrheit nicht, sondern stellt sich ihr. Zwar hätten manche Passagen etwas gestraffter sein können. Aber insgesamt ist es ein ermutigendes und hilfreiches Buch, das sehr zum Nachdenken anregt. Hut ab!
Jens Brehl, „Mein Weg aus dem Burnout“, Pomaska-Brand Verlag, 6. Dezember 2013, 292 Seiten, 14,80 Euro, ISBN: 978-3943304-21-3
PS: Lieber Herr Brehl, Sie schreiben auf S. 220 davon, dass Sie ständig das Licht anmachen, aufstehen, ins Büro schlurfen und mehr oder weniger genervt Notizen machen. Mein Tipp für Sie: Legen Sie sich einfach ein paar Zettel und einen Stift ans Bett, dann brauchen Sie zumindest nicht mehr aufzustehen, um Ihre Ideen aufzuschreiben. Bei mir funktioniert das hervorragend!
- Er schreibt sogar selbst: „Dermaßen interessant ist meine Geschichte auch wieder nicht. (…) „Ich bin nur der Jens.“ (S. 209) ↵
Jens Brehl meint
Toller Beitrag, denn es gefällt mir sehr, wie du dich (sorry, duze eigentlich fast jeden) auch persönlich den Fragen stellst. Die Antworten können wirklich unangenehm sein, doch es lohnt sich oft sie zu finden. Ich fasse mir dabei ja an die eigene Nase, denn in meiner Arbeitssucht und dem Funktionieren konnte ich mich ja auch so schön ablenken.
Und ja, Zettel und Stift könnte ich auch direkt neben das Bett legen. Doch mein letzter Blick am Ende des Tages soll nicht auf Notizen fallen, die ich da vielleicht noch liegen habe. Aber ich werde das System noch überdenken. Zumindest habe ich ja einen wasserfesten Block in der Dusche (kein Witz), denn auch hier strömen morgens nur so die Ideen…
JUICEDaniel meint
Hallo Jens (gerne per du :) ),
ja, über manche Dinge werde ich sicher noch eine Weile nachdenken. Schließlich ist es besser, sich im Vorfeld Gedanken über manche Themen zu machen, damit es z.B. erst gar nicht zur Eskalation (in dem Fall zum Burnout) kommt.
Was Zettel und Stift anbelangt: Dann kauf dir ein kleines Nachtschränkchen, in dem du das verstauen kannst und nur bei Bedarf rausholen musst. Ich habe mein Nachtschränkchen übrigens auch vom Sperrmüll :) [Ein Bild deines Wohnzimmerschranks würde ich sehr gerne mal sehen :-) ]
Liebe Grüße
Daniel