Gewalt, Krawalle, Wut und Zerstörung – normalerweise ist die Nacht zum 1. Mai in Berlin nichts für zarte Gemüter. Schon mehrere Male habe ich die Randalierer bei ihrem Akt der Verwüstung als Fotograf begleitet. Doch dieses Jahr blieb es ungewohnt friedlich.
Als ich mittags zum MyFest in Kreuzberg kam, schien die Sonne wunderbar frühlingshaft, es war noch nicht zu heiß, aber schön warm. Die Straßen füllten sich langsam mit Menschen und Musik. Es war der typische Schlag „Berliner“ – so sehe ich das inzwischen – ein bisschen was von überall eben. Es gab keine „echten“ Berliner unter denen, die ich ansprach. Die, die schon am längsten hier wohnten, waren wohl die jugendlichen Mädchen, die am Stand der Eltern mithalfen, Köfte zu formen und Ayran zu verkaufen.
Dennoch wimmelte es, wie immer, nur so von Selbstdarstellern und Orientierungslosen, die sich hier anscheinend sehr wohl fühlten. Die halbstarken Brüder der türkischen Mädchen waren genauso Teil dieser Masse wie ältere Frauen, Hände in der engen Jeans, die E-Gitarre spielenden Jungs zuschauten und eifrig mit dem Kopf wippten und ab und zu mit einem Bein einknickten. Es gab die wandelnden Tattoo-Teppiche, Hardcore gegen Nazis. Eine Ecke weiter, an den Brüsten der offen stillenden Mütter auf dem Bordstein vorbei, die Möchtegern-Punks, hier und da ein Hund. Kinder verkauften vor der Wohnungstür ihre Stofftiere, Bücher, Matchbox-Autos. Viele Ü40er, die knallig bunt versuchten, ihre Siebziger-Jahre-Zeit nochmal aufblühen zu lassen.
Am Nachmittag werden dann die Zugangsstraßen gesperrt, weil der Andrang zu groß ist. Es wird heiß, die Sonne unbarmherziger. Man kommt kaum noch weiter, kämpft sich ebenso an Tanzenden vorbei wie durch den dicken Rauch der aufgereihten Essensstände und die drückenden Wellen der Subwoofer. Es ist wie im Dschungelund alle haben eine supergeile Zeit: „Ab hier beginnt der Hangover!“, brüllt ein Hipster. Wohl zu viel Fernsehen geguckt, gerade zugezogen, von Mama und Papa zuhause, die wahrscheinlich noch Miete und sowieso Unterhaltskosten zahlen – der Bub‘ muss sich schließlich aufs Studium konzentrieren.
Jeder Flecken Rasen wird besetzt, ein Banner mit der Aufschrift „Die Jugend kennt kein Vaterland“ dazugelegt. Denn wir sind selbstständig, wir sind anders, wir lassen uns vor allem nichts schenken, schon gar nicht vom Staat. Trotzdem ist es schön, dem gelassenen Summen zu lauschen und den fröhlichen Gesichtern zuzuschauen. Am Oranienplatz nebenan liegt ein Dutzend Menschen auf Matten. Ein junger Afrikaner schreibt mit schwarzer Farbe „Hungerstreik der Flüchtlinge“ auf ein Transparent.
Genauso pervers ist wohl, dass ich mir spektakulärere Szenen von der Demonstration am Abend erhofft hatte. Bengalo-Feuer auf den Dächern. An den Fassaden hängende Transparente begrüßen den heranmarschierenden Menschenstrom. Vermummte Trupps aus unterschiedlichen Straßen, aggressiv und zielstrebig, Wasserwerfer gegenüber. Adrenalin, Aufruhr, Aggression. Kaum etwas davon geschah dieses Jahr. Die Polizei hatte die Dächer für sich erobert – überall Männer mit Helmen und Kameras, Helikopter darüber. Die Demonstranten waren nicht wirklich wütend. Die Jungs und Mädels in Schwarz haben Piratentattoos, bunte Adidas-Läufer, RayBans. Sie filmen mit Smartphones. Zu wenige sind ergriffen oder gar überzeugt von der durch die Lautsprecher gepredigten Ungerechtigkeit in anderen Ländern. Ganz zu schweigen vom Antikapitalismus.
Mal rennen ein paar Übereifrige hinter den Hecken entlang. Doch Wut spürt man erst beim Aneinanderkommen – mit der Polizei. Einer läuft über ein paar Autos. Es gibt ein wenig Gerangel, eine Ermahnung, einen Schupser, Mittelfinger, Gebrüll. Das Übliche. Als der erste Anhänger abgeführt wird, bricht der Demonstrationszug auseinander. Oder war es andersherum? Man kann es nicht wirklich nachvollziehen. Relativ unüberlegt wird hier hochgeschaukelt. Aber heute geschieht nicht viel mehr als ein bisschen Stimmung und böse Sprüche. Es fliegt auch die ein oder andere Flasche, aber das ist nichts. Vermutlich aus Spaß oder aus Langeweile.
Ich hatte auf sie gehofft, die Aggressoren, diese, die nichts im Leben finden, das ihnen mehr Erfüllung bereitet als zu pöbeln, zu schikanieren, zu zerstören, Krieg zu spielen. Denn es gibt sie und wenn sie auftreten, geschehen Dinge, die man in unserer Gesellschaft als unmöglich wegredet. Schnell sind andere dabei. Dann rennen Menschenmassen durch die Straßen, dann werden Pflastersteine ausgegraben, Fensterscheiben eingeworfen, Autos zerschlagen. Der Nachmacher-Effekt greift. Papa ist weit weg und schaut Nachrichten und aus dem Studenten wird ein Vollidiot weil ein Besoffener irgendwo aus der Tiefe etwas freien Lauf lässt, dass er auch schon immer mal rauslassen wollte. Eine alte Frau schaut dem Treiben zu und sagt zu mir:
„Die sollen ruhig auf die Straße gehen und ‚rumschreien. Das haben wir ja auch gemacht. Aber wieso die alles zerstören müssen, das versteh‘ ich nicht. Mein Mann hat den Krieg mitgemacht – wir haben danach wieder aufgebaut, wir sind die Generation, die wiederaufgebaut hat.“
Die alte Frau will mal schauen, was auf dem Fest so los ist. „Aber abends, da geht unsereiner ins Bett“, sagt ihr Mann, „vielleicht mal aus dem Fenster schau’n.“
Am Halleschen Tor ist Schluss. Die Demo zu Ende. Im U-Bahnhof gibt es dann doch nochmal Gerangel. Pfefferspray wird verteilt – scheinbar wollte man es beiderseits doch nicht bei diesem langweiligen und einfallslosen Abklang belassen. Die Luft beißt in den Augen und im Rachen. Die Station wird außer Betrieb gesetzt. Es geht zu Fuß zurück zum Kotti wo munter weitergefeiert wird.
Als es um Mitternacht anfängt zu regnen, mache ich mich langsam auf den Heimweg. „Enoug is enough – Genug ist genug“ und „Es ist Zeit für Revolution“ steht am neu errichteten Flüchtlings-Protestcamp am Oranienplatz, am Eingang zum MyFest. Das vorige Camp, mit fast 500 dort dauerhaft in Zelten lebenden Menschen, wurde nach anderthalb Jahren abgebaut. Jetzt liegen unter riesigen, nassen Planen wieder Menschen. Abseits der Party, an diesem Erlebnistag unbeteiligt, in stillem, ausdauerndem Protest. Unbeachtet. Unsichtbar.
Bis auf ein paar Verrückte, die weiter zu den Beats und dem Dröhnen abzappelten, flüchten alle unter Bäume, Markisen und U-Bahnstege. Der 1. Mai in Berlin war vorbei und verlief dieses Jahr im großen Ganzen unspektakulär.
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