Eigentlich hasst Angela Ordoñez-Delgado Fußball wie die Pest. Doch während sie sich bei einer Kur in Bad Orb langweilt, bringt die Weltmeisterschaft 1990 in Italien den strengen Tagesablauf gehörig durcheinander.
Angela kann nicht schlafen. Es ist schon spät, weit nach Mitternacht. Seit einer Stunde wälzt sich die Neunjährige in ihrem Bett hin und her, kriegt aber kein Auge zu. So lange aufgeblieben ist sie das letzte Mal an Silvester. Deutschland ist soeben Weltmeister geworden, durch ein 1:0 gegen Argentinien. Immer noch rasen die Autos hupend durch den sonst so ruhigen Kurort Bad Orb, obwohl der Schlusspfiff schon gute drei Stunden zurückliegt.
Knappe zwei Monate früher: Angela wohnt in Marburg und hasst Fußball wie die Pest. Es gibt nichts Schlimmeres. Immer, wenn ihr Bruder und ihre Cousins Fußball gucken, spielen oder nur darüber reden, könnte sie platzen vor Wut. Weder kann sie mitreden, noch hat sie Spaß daran und muss in der Zeit mit der Oma spielen. Langweilig! Und die Jungs haben ihren Spaß.
Doch auf einer Hochzeit ändert sich das schlagartig. Am 26. Mai 1990 heiratet Angelas Onkel in Homberg (Ohm) seine Verlobte. Angela läuft als Blumenmädchen vor dem Brautpaar her und ist somit die Erste, die sieht, dass die Teamkollegen aus der Fußballmannschaft des Onkels am Ausgang Spalier stehen. Die Mannschaftskameradinnen der neuen Tante, die ebenfalls Fußball spielt, stellen sich vor dem Dorfgemeinschaftshaus auf. Dass sich ein Verein so ins Zeug legt, kannte Angela vorher nicht. Sie ist begeistert. Sind Fußballer etwa doch nicht alle doof?
Torwandschießen im Brautkleid
Die Hochzeit steht weiter im Zeichen der Lieblingssportart der Deutschen. Es gibt ein Wett-Fußball-Aufpumpen und die Braut muss im Kleid und mit hohen Schuhen auf eine Torwand schießen. Gesprächsthema Nummer eins ist die WM in Italien, die in wenigen Tagen beginnt. Wie lässt Beckenbauer spielen? Welcher Gegner wird eine harte Nuss? Kann Deutschland tatsächlich Weltmeister werden? Das alles findet die kleine Angela irgendwie cool. Als sie am Abend ins Bett geht, ist sie überzeugt: Eigentlich sind Fußballer total nett.
Ende Mai bricht sie mit ihrem Vater und ihrem Bruder in eine Kur nach Bad Orb auf, einem friedlichen Kurort im Spessart mit wenigen Tausend Einwohnern. Es gibt eine Burg, viele alte Fachwerkhäuser schmücken die Altstadt. Der Tagesablauf in der Kur ist strikt und immer der Gleiche: 7 Uhr: Aufstehen. 8 Uhr: Tischdecken, Frühstücken, Spülen. 9 Uhr: Schule. 11 Uhr: analoges Training oder Gymnastik. 13 Uhr: Mittagessen. 15:30 Uhr: Solebad oder Sport, danach Freizeit. 18 Uhr: Abendessen. 21 Uhr: Bettruhe.
Nicht gerade spannend. Doch am 4. Juli ändert sich das schlagartig. Um 20 Uhr tritt die deutsche Mannschaft in Turin gegen England an. Alle Mädchen, die in der Kur untergebracht sind, gucken das Spiel zusammen mit den Betreuern. Angela hat darauf überhaupt keine Lust, denn Fußball ist schließlich total langweilig. Doch sie lässt sich drauf ein. Und siehe da: Die Neunjährige ist begeistert. Es gibt Eis für alle und das Spiel ist unglaublich spannend. Ausnahmsweise dürfen die Mädchen länger aufbleiben.
Angela versteht nur Bahnhof
Die Mitarbeiter regen sich über den Schiedsrichter auf, Angela versteht nur Bahnhof, wenn es um Abseits oder kein Abseits geht. Angelas Bruder und der Vater schauen ebenfalls vorbei. Mit 1:1 gehen die Mannschaften in die Verlängerung und schließlich ins Elfmeterschießen, das Deutschland für sich entscheidet. Zur Feier des Tages stoßen die Betreuer mit einem Sekt an. Alles ist irgendwie anders.
Angela ist plötzlich fasziniert vom Fußball und der deutschen Mannschaft, die in Italien Spiel um Spiel gewinnt. Besonders cool findet sie Rudi Völler, den Hessen, der die Welt bereist und seinen Vokuhila mit Stolz trägt. Aus Hanau kommt er, gleich um die Ecke quasi. Dementsprechend gespannt ist sie auf das Finale, das in der Kur einen ähnlichen Ausnahmezustand hervorruft.
Im Gemeinschaftsraum kommen alle zusammen: Männer, Frauen, Jungen, Mädchen. Die Nachtruhe um 21 Uhr wird abermals außer Kraft gesetzt. Niemand will sich jetzt noch mit dem zweiten Platz zufrieden geben. Angela drückt beide Daumen so fest sie kann. Und tatsächlich: Deutschland schafft die Sensation und besiegt Argentinien knapp, aber verdient mit 1:0.
Sofort den Titel geholt
Angela ist glücklich. Zum ersten Mal eine WM verfolgt – und sofort den Titel geholt. Sie geht ins Bett, doch das Adrenalin hält sie wach. Irgendwann beginnt die Neunjährige, die hupenden Pkw zu zählen. Nach einer Weile schläft sie glücklich ein. Ein guter Tag geht zu Ende. Deutschland ist Weltmeister. Damit hat sie nicht gerechnet. Ebenso wenig mit der Tatsache, dass sie sich darüber freuen würde.
Heute heißt Angela mit Nachnamen Ordoñez-Delgado, sie hat einen Spanier geheiratet. Als sie sich an die Kur im Sommer 1990 zurück erinnert, muss sie grinsen. „Die WM hat die gesamte Zeit in ein positives Licht gerückt“, schwärmt sie. Die mittlerweile 33-Jährige sitzt im Schneidersitz auf einem Stuhl, trägt einen dunkelblauen Pullover, eine schwarze Jogginghose und pinke Hausschuhe. Ihr Ehemann hat sich auf der Couch breit gemacht und guckt auf dem Laptop eine Folge „Game of Thrones“.
Mittlerweile verpasst Ordoñez-Delgado bei Welt- oder Europameisterschaften kein einziges deutsches Spiel. Auf die WM in Brasilien freut sie sich schon ganz besonders. Bald wollen sie und ihr Mann von ihrer Wohnung in ein eigenes Haus ziehen. Der Plan sei, verrät Ordoñez-Delgado, rechtzeitig zum Finale fertig mit dem Umzug zu sein. Da wolle sie nämlich alle Freunde zum Fußballgucken im neuen Garten einladen. Ein Public Viewing im kleinen Rahmen – so wie damals im Gemeinschaftsraum in Bad Orb.
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