Da ich erst 1991 geboren bin – also ein knappes Jahr zu spät, um den letzten deutschen Titelgewinn live miterlebt haben zu können – weiß ich gar nicht, wie man sich denn als Weltmeister so fühlt. Würde ich aber gern. Deshalb nehme ich wenig weltmeisterlich vor dem Computer Platz und hole das Finale von Rom mithilfe eines YouTube-Videos nach.
Noch 12 Minuten bis zum Anpfiff:
Es geht los! Kommentator Gerd Rubenbauer (mit schicker lilafarbener Krawatte) und Experte Karl-Heinz Rummenigge (mit strohblondem Haar) grüßen aus dem Estadio Olimpico in Rom. „Ja, Kalle, super Stimmung hier im Stadion!“, eröffnet Rubenbauer. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat auch schon seinen Platz eingenommen. Weizsäcker! Hui, ist das lange her.
Noch 11 Minuten:
„Welche Gefühle beschleichen einen Spieler in solchen Momenten?“, will Rubenbauer wissen. „Diese letzten Stunden oder Minuten sind eigentlich die schlimmsten“, weiß Rummenigge. „Die Nervosität kennt keine Grenzen.“ Ich bin auch schon ganz aufgeregt. Gleich werden wir Weltmeister! Also – in 90 Minuten.
Noch 10:
Rubenbauer berichtet, er habe sich „gestern um 17 Uhr“ lange mit Teamchef Franz Beckenbauer unterhalten. Und nun weiß er bestens über die Aufstellung Bescheid. Häßler rechts, Littbarski links. Und Buchwald gegen Maradona. Nicht zu beneiden, der Guido, aber er packt das schon. Schließlich hat er bis jetzt so gut gespielt, dass Rummenigge gleich mal einen neuen Superlativ für ihn erfindet: „Er ist eigentlich die absolut positivste Überraschung dieses Turniers!“
Nicht mehr lange!
Noch mehr Expertenwissen von Deutschlands berühmtestem Karl-Heinz: „Diego Maradnna ist gleich Argentinien.“
Noch 8 Minuten:
„Eine wunderschöne Stimmung vor und in diesem Stadion, in dem wir uns jetzt auch optisch befinden“, schwärmt Rubenbauer schon wieder. Ah, jetzt wird er konkreter: 45 bis 50.000 Deutsche Fans sind da, erklärt Rummenigge. Fast ein Heimspiel also.
Nur noch 6 Minuten:
Die Mannschaften laufen ein, angeführt von Schiedsrichter Edgardo Codesal Mendez (Mexiko), sowie den Kapitänen Diego Maradona und Lothar Matthäus.
Noch 5!
Die argentinische Nationalhymne. Aber die Deutschen Fans sind lauter! Señor Maradona guckt leicht nervös.
Noch 4 Minuten:
Und jetzt die Deutsche Hymne! „Eeeeeeinigkeit uuuuund Reeeeeeecht und Freeeeeiheeeeit…“ Alle elf deutschen Spieler singen mit. Die Fans auch – allerdings leicht im Takt verrutscht. Bundeskanzler Helmut Kohl genießt schweigend.
Noch zwei Minuten:
Auch Rubenbauer ist sofort aufgefallen: Der Maradona hat bei der Hymne komisch geguckt. Rummenigge will ein Schimpfwort von den Lippen des kleinen Spielgestalters gelesen haben. Mysteriös.
Gleich geht’s los:
Die Aufstellung der Argentinier. Ruggeri, Burruchaga, Troglio? Nicht gerade Namen, an die man sich heute noch erinnert. Bei uns sieht das natürlich anders aus: Augenthaler, Matthäus, Littbarski, Klinsmann, Völler. Hach ja.
Anstoß:
Burru-Dingsbums tritt gegen das Leder. Der Ball rollt!
2. Minute:
„Buchwalds erster Punktsieg gegen Maradona!“, jubelt Rubenbauer, als liege Deutschland schon mit 1:0 in Führung. Immerhin entsteht ein guter Konter. Klinsmann flankt, doch Häßler steht im Abseits.
4. Minute:
Argentinien haut den Ball einfach nach vorne. Denen fällt jetzt schon nichts mehr ein!
5. Minute:
Freistoß von links, Brehme flankt scharf in den Sechzehner, und dann Völler! Mensch, Rudi, das wär’s gewesen. Leider knapp übers Tor.
7. Minute:
Häßler und Littbarski mit einem fast schon brasilianisch anmutenden Doppelpass. Und wieder nur durch ein Foul zu stoppen. Gelbe Karte für Dezotti, der allerdings mit einer beeindruckenden Lockenpracht punkten kann.
8. Minute:
Und jetzt der Freistoß. „Klinsmann schmuggelt sich in die Mauer“, kommentiert Rubenbauer. Na, hoffentlich wird er nicht erwischt, der Klinsi! Brehme lenkt von der Schmuggelei ab, indem er den Ball mit voller Wucht gegen die argentinische Mauer tritt. Autsch.
9. Minute:
Klinsmann flankt schon wieder, Völler köpft schon wieder vorbei.
12. Minute:
„Ahh, Völler! Um eine Locke!“, röhrt Rubenbauer ins Mikrofon. Vielleicht lag’s auch einfach an Buchwalds ungenauer Flanke.
13. Minute:
Pierre Littbarski, der Mann mit dem schönsten Namen und dem schönsten Vokuhila zugleich, ist leider nicht unser zielsicherster Mann.
14. Minute:
Klinsmann flankt schon wieder auf Völler. Diesmal fehlt nur ein Schnürsenkel.
15. Minute:
So kann es gerne bleiben: „Der deutsche Strafraum gleicht einer ballfreien Fußgängerzone.“ (Gerd R.)
17. Minute:
Wo ist eigentlich dieser Maradona, von dem alle reden?
18. Minute:
Ah, da. Im Schatten von Buchwald.
20. Minute:
Toller Ballgewinn von Matthäus, doch Rudi „die Locke“ Völler vertändelt das Spielgerät.
23. Minute:
Sag mir quando, sag mir wann: Deutschland drückt, Argentinien findet einfach kein Durchkommen. Auch Rubenbauer wundert sich: „Wann fällt das erste Tor?“
25. Minute:
Diesmal fehlen weder Locke noch Schnürsenkel: Völler köpft. Und trotzdem: drüber.
28. Minute:
Littbarski wird übel gefoult, wälzt sich im italienischen Gras und schreit so laut, dass man es auch am Fernseher hört.
31. Minute:
Ein Nationalspieler aus dem Jahr 2014 würde jetzt immer noch auf dem Boden liegen. Littbarski köpft lieber Maradonas ersten gefährlichen Ball aus dem Strafraum.
33. Minute:
„Und jetzt eine schöne Flanke!“, fordert Rummenigge. Thomas Berthold antwortet mit einer etwas andere Definition von „schön“.
38. Minute:
Die deutsche Abwehr steht felsenfest. Bertholds nächste Flanke findet diesmal immerhin den Kopf eines Verteidigers, bevor sie ins Toraus flattert. Die Ecke landet wiederum auf Bertholds Kopf, der den Ball allerdings eher in Richtung Illgner (deutscher Torwart) statt in Richtung Goycochea (argentinischer Torwart) befördert.
44. Minute:
Das Spiel plätschert vor sich hin. Besonders weltmeisterlich fühle ich mich noch nicht. Aber wie unsere Abwehr die Argentinier im Griff hat, ist relativ beeindruckend.
45. Minute:
Brehme hat Erbarmen mit Illgner, der in seinem Kasten vor Beschäftigungslosigkeit einzuschlafen droht. Zum Glück ist das noch nicht geschehen, und so kann der deutsche Torwart den unglücklichen Heber noch parieren. Das war knapp. Schiedsrichter Codesal Mendez pfeift die erste Hälfte ab.
Halbzeitpause:
Rubenbauer hofft, dass das in der zweiten Halbzeit so weiter geht und „dass wir dann auch ein Tor von der deutschen Nationalmannschaft erleben werden“. Das hoffe ich auch!
46. Minute:
Bei Argentinien kommt Monzon. Dem sollte man lieber nicht zu nahe kommen. Denn, Zitat Rubenbauer: „Das ist ein giftiger Mann!“ Noch ein kurzer Kameraschwenk auf das Schuhwerk des argentinischen Trainers, Dr. Carlos Bilardo. Er trägt zwei senfgelbe Lederslipper. Na denn. Der Schiri greift zu Trillerpfeife – weiter geht’s!
47. Minute:
Littbarski wie der junge Messi! Nur mit dem Toreschießen klappt es immer noch nicht.
49. Minute:
Icke Häßler. Mensch, ist der klein. Und Mensch, ist der schnell!
50. Minute:
Die Ereignisse überschlagen sich. Der schnelle Häßler schnellt ins Aus. Matthäus tunnelt den Schiedsrichter und wird von den Beinen geholt. Der anschließende Freistoß von Brehme landet auf dem Kopf von Berthold, der… Na, ihr wisst schon.
51. Minute:
Wieder Freistoß Brehme, wieder mal Völler mit dem Fuß. Diesmal allerdings nicht auf die Tribüne, sondern in den italienischen Nachthimmel.
53. Minute:
Die deutsche Mannschaft inzwischen mit so viel Ballbesitz, wie der FC Bayern an einem schlechten Tag. Also zirka 79 Prozent.
54. Minute:
Buchwald und Völler nehmen Maradona in die Mangel. Die Hand Gottes blutet. Beziehungsweise: Der Arm, an dem sie hängt. Völler bekommt die gelbe Karte und einen High-Five vom Gefoulten. Hä? Argentinien bringt Calderon für Burru-cha-cha-cha.
56. Minute:
Wie gut die Deutschen einfach sind! Hinten felsenfest, vorne schön anzusehen. Nur Beckenbauer meckert: „Musst du ausspielen!“
58. Minute:
Ich glaub, es hackt! Matthäus wird an der Seitenlinie übel von den Beinen geholt. Keine Karte. Und dann senst der Torwart mit dem schwierigen Namen unseren Augenthaler um. Kein Elfmeter. Der Schiedsrichter hatte Angst, vermutet Rummenigge. Das wäre, mit Verlaub, etwas suboptimal für ein WM-Finale.
61. Minute:
Littbarski und Brehme mit einer grandiosen Freistoß-Variante. Und wieder kein Tor! Herrschaftszeiten!
63. Minute:
Der argentinische Torwart hat wenig zu tun, die Balljungen in seinem Rücken dafür umso mehr.
64. Minute:
Hossa! Monzon attackiert mit einem Kamikaze-Sprung die Klinsmann’schen Waden. Und diesmal hat der Schiri aufgepasst. Rot!
73. Minute:
„Wer setzt den Bohrer an?“, möchte Rubenbauer wissen. Hmm, vielleicht der Zahnarzt? Möglicherweise ist es auch Stefan Reuter. Er wird für Berthold eingewechselt.
78. Minute:
Viele Fouls, wenig Fußball.
80. Minute:
„Da waren‘s nur noch zehn. Nicht nur Argentinier, sondern auch Minuten.“ (Gerd Rubenbauer, Wortakrobat)
84. Minute:
Matthäus mit einem Traumpass auf Völler, der wird im Strafraum umgerissen. Elfmeter! Endlich! Die Zeitlupe verrät allerdings: Sehr großzügig vom Schiedsrichter.
85. Minute:
Was jetzt passiert, ist Geschichte. Ich wusste nicht allzu viel über das Spiel, aber diese Szene habe ich schon tausend Mal gesehen. Brehme tritt an und versenkt den Ball sicher unten links im Eck. 1:0!
87. Minute:
Fernab der Kamera reißt Dezotti Kohler mit einem Wrestling-Move zu Boden. Der Schiedrichter hat es aber mitbekommen. Wieder rot! Und gelb für den zeternden Maradona. Jetzt, vor 24 Jahren, atmeten wahrscheinlich Millionen Deutsche auf. Da passiert nichts mehr.
90. Minute:
Deutschland zaubert. Argentinien foult nur noch. Rubenbauer empfiehlt, schon mal den Schampus hervorzuholen.
Schlusspfiff:
Codesal Mendez beendet die WM 1990, die nun einen verdienten Sieger hat: die Bundesrepublik Deutschland! Beckenbauer bringt seine Brille in Sicherheit, Maradona gratuliert artig und Klinsmann weint Freudentränen. Hach, ist das schön.
Nach dem Schlusspfiff:
Jörg Wontorra im Gespräch mit Franz Beckenbauer. Der „Kaiser“ gibt sich gewohnt bescheiden: „Einen verdienteren WM-Sieg habe ich noch nie gesehen.“
Siegerehrung:
Kapitän Matthäus darf den Weltpokal als Erster in die Höhe recken. Als alle Spieler mal dran waren, geht es zum Feiern in die Fankurve. Beckenbauer schreitet einsam über den Rasen. Momente für die Ewigkeit. Werde ich etwa ein bisschen emotional?
Ende:
Puh, geschafft. Beeindruckend, wie die Mannschaft dieses Finale dominiert hat. Taktisch, spielerisch und vor allem kämpferisch. Muss ein magischer Abend für Deutschland gewesen sein. Wir sind Weltmeister. Schön war’s.
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JUICEDaniel meint
WIE GERNE würde ich jetzt das von dir eingebundene WM 1990-Finale schauen. Man. Leider muss ich noch jede Menge arbeiten. Aber wenn ich mal wieder zwei freie Stunden habe, weiß ich, was ich machen werde. Super, dass es diese Möglichkeit gibt. Danke für deinen spannenden „Liveticker“, der Lust auf mehr gemacht hat.
ThomasB. meint
Nicht das Finale gucken… Besser das Halbfinale! Oder das aufregerspiel gegen Holland.
Ich war 14, die WM war der HAMMER!
Ich wüsche Dir das Gefühl auch möglichst bald..)