Zur „Groupie-Fraktion“ haben sich Dagmar Riecke und Doris Füßler nie gezählt. Aber wie man Hintereingänge überwindet, damit kennen sich die beiden Freundinnen bestens aus. Somit ist es für sie auch kein Problem, nach der WM 1990 in den Frankfurter Römer zu gelangen, um dort mit der Mannschaft zu feiern.
Neuer Versuch. Doris Füßler steckt ihren Zeigefinger in die Wählscheibe. Zum fünften Mal an diesem Vormittag. Geh endlich ran! Na also: Dagmar Riecke nimmt ab und entschuldigt sich. Sie habe sich nicht getraut, während der Arbeit ans Telefon zu gehen. Schließlich sei sie nur eine Auszubildende. Aber nun hat es ja geklappt. Und so können die beiden Freundinnen einen Plan schmieden, der sie in die Tagesschau bringen wird.
Wasserdicht ist er nicht, der Plan. Die beiden wissen: Ein wenig Fortune werden sie dabei schon benötigen. Doch zum Glück hat Lothar Matthäus keine Lust auf Blumen. Und zum Glück ist Jürgen Klinsmann noch nicht in festen Händen. Sonst wäre womöglich alles in die Hose gegangen.
Wir schreiben den 9. Juli 1990, die deutsche Fußballnationalmannschaft hat am Vorabend Argentinien im Finale der Weltmeisterschaft geschlagen und verdient den Titel geholt. Überall in Deutschland sammeln sich Fans auf den Straßen und Plätzen, um gemeinsam zu feiern. Das hat es so zuvor noch nie gegeben. Der Titel wird traditionell in Frankfurt der Masse präsentiert.
Am Römer geht die Party ab
Nachdem die Mannschaft in Rom die Nacht zum Tag gemacht hat, landen Spieler, Trainer, Betreuer und Funktionäre um 14.50 Uhr am Frankfurter Flughafen. In 22 Cabrios fährt die Truppe anschließend in Richtung Innenstadt, um sich am Römer von tausenden von Fans feiern zu lassen. Das wollen sich die beiden Freundinnen aus Groß-Umstadt natürlich nicht entgehen lassen. Schließlich sind Riecke, 19, und Füßler, 20, die eigentlich noch nie etwas mit Fußball am Hut hatten, durch die WM zu echten Fans geworden. Am Römer geht die richtige Party ab, hatte Füßler am Vorabend irgendwo aufgeschnappt, als sie und Riecke mit Freunden auf dem Groß-Umstädter Marktplatz feierten.
Riecke nimmt sich also kurzerhand den Nachmittag frei, Füßler holt sie von der Arbeit ab und mit der U-Bahn geht es weiter zum Römer. Doch als sie gerade aussteigen, werden sie von der Menschenmasse fast wieder in den Waggon zurückgedrängt, so viele Fans tummeln sich rund um das Frankfurter Rathaus. Die beiden fühlen sich in ihrem Vorhaben bestätigt, die Feier nicht unter den Fans, sondern mit der Mannschaft erleben zu wollen. „Wir müssen es machen“, reden sie sich ein. Ohne große Umschweife geht es hinüber zum bewachten Hintereingang. So, wie sie es ja eigentlich immer machten.
Backstage-Bereiche sind in den 80er und 90er Jahren quasi das zweite Zuhause der beiden Freundinnen. Fast jedes Wochenende mogeln sie sich hinter die Bühnen der ganz großen Stars. Andere gehen in die Disco, Füßler und Riecke plaudern mit Pink Floyd, essen mit ACDC zu Abend und machen mit Iron Maiden in Alt-Sachsenhausen die Nacht zum Tag.
„Das war eben unser Hobby“
In einem Umstädter Café präsentieren die beiden stolz ihre Trophäen: Mehrere dicke Fotoalben, vollgepackt mit Bildern von ihnen und den Stars. Dagmar Riecke (heute 43) und Doris Füßler (44), die eine blond, die andere brünette, reden heute über ihre Erlebnisse, als sei das Alles ganz normal. „Das war eben unser Hobby“, sagt Riecke nüchtern. „Wir haben das fast jedes Wochenende gemacht.“ Manchmal probieren sie es aber immer noch: Zuletzt 2008, als Bon Jovi in Mannheim spielten. Zur „Groupie-Generation“ hätten sie aber nicht gehört, bestreiten die beiden vehement.
Mit ihrer Erfahrung war 1990 auch das Innere des Frankfurter Römer leicht zu erreichen: Eine kleine Lüge, kombiniert mit etwas weiblichem Charme und der erste Security-Mann lässt Riecke und Füßler passieren. Sie kämen gerade aus Rom und hätten dort Jürgen Klinsmann kennengelernt, erzählen sie. Er habe ihnen gesagt, er wolle sie im Römer treffen. Der Sicherheitsbeamte glaubt ihnen.
Mit zahlreichen Journalisten und Polizisten warten die beiden gespannt auf die deutsche Mannschaft, die gegen 16 Uhr, rund zwei Stunden später als angekündigt, um die Ecke biegt. Und das Glück spielt ebenfalls mit. Als Lothar Matthäus aus dem Auto steigt, in dem er und Trainer Franz Beckenbauer die Kolonne angeführt hatten, hält er einen Strauß Blumen in den Händen, den ihm jemand am Flughafen geschenkt hatte. Doch Matthäus hat offenbar keine Lust, den Strauß weiter mit sich herumzutragen, sieht sich kurz um und drückt ihn der überraschten Dagmar Riecke in die Hand. Was der Kapitän nicht merkt: Die beiden Damen hängen sich an die Versen des frisch gebackenen Weltmeisters und folgen ihm in den Kaisersaal. Sämtliche Sicherheitsbeamten lassen sie gewähren – im Glauben, zwei Spielerfrauen vor sich zu haben.
Sepp Maier schmollt
Nach ein wenig Smalltalk im Kaisersaal mit den Spielern, die keinen Verdacht schöpfen und das Duo für Hostessen halten, geht es raus auf den Balkon, zum Feiern mit den Fans. Torwarttrainer Sepp Maier bleibt drinnen und schmollt, weil ihm jemand seine Videokamera geklaut hat. Riecke bleibt bei ihm, denn sie traut sich nicht. Füßler schon. Als sie merkt, dass sie ihre Freundin verloren hat, ruft sie nach ihr. Und Petra Roth, damals hessische Landtagsabgeordnete, macht mit. Da kann Riecke sich natürlich nicht weiter verstecken und stellt sich zu Füßler auf den Balkon.
Beziehungsweise: Auf eine Stufe dahinter, sonst hätte man die beiden ja gar nicht gesehen. Auf dem Balkon ist es ohnehin ein wenig eng. Sehr breit, aber kurz ist er. Mannschaft und Betreuer passen gerade so drauf. Dazu gesellen sich ein Fernsehmoderator, einige Politiker (darunter der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble), sowie Udo Jürgens, der mit den Spielern den gemeinsamen Hit „Wir sind schon auf dem Brenner“ schmettert. Hollahi, hollaho.
Nach ein paar Interviews und ein wenig Feiern mit den Fans geht es zurück in den Kaisersaal. In dem großen Raum mit seinen hohen Wänden und der pompösen Einrichtung fühlen sich die beiden fast wie in einem Schloss. Füßler und Riecke bedienen sich am gigantischen Buffet, nehmen den WM-Pokal entgegen als er rumgereicht wird und plaudern weiter mit den Spielern, die alle über beide Backen strahlen. Verdacht schöpft niemand.
Füßler und Riecke gehen zufrieden nach Hause. Sie sind nicht aufgeflogen. Nur ein Erinnerungsfoto konnten sie diesmal nicht machen: Die Aktion war so spontan, dass keine der beiden eine Kamera mitnahm. Bevor sie ins Bett geht, greift Doris Füßler zu ihrem Kalender, erinnert sich an ihr Gespräch mit Olaf Thon, den sie ja schon ein bisschen süß findet, und greift zu einem Stift. „Olaf Thon“, schreibt sie unter den 9. Juli 1990, dazu zwei Herzen und: „Supertag“.
Sponsored by
JUICEDaniel meint
Vielen Dank, Manuel! Das ist wirklich ein sehr guter Artikel, schön geschrieben, spannend. Krass, was du da für eine Geschichte gefunden bzw. ausgegraben hast. Vor allem dein Einstieg finde ich sehr gelungen, mit dem du einen tollen Spannungsbogen aufbaust. Schön erzählt, weiter so! (Bin gespannt auf die noch ausstehenden Folgen!)