Und wieder wird der neuste Webhype durchs Internetdorf gejagt, bis die Sau irgendwann ausgelutscht in der Ecke liegt und ein Nischendasein in den Weiten des Webs fristen wird. Wovon ich rede? Von Spritz, dem neuesten heißen Scheiß am digitalen Himmel. Dabei ist die Idee alles andere als neu.
Manchmal muss ich mich wirklich wundern: Haben die Menschen eigentlich alles wieder vergessen – Digitale Demenz lässt grüßen – oder haben sie einfach noch nicht davon gehört? Die Rede ist von Spreeder, einem Online-Tool, mit dem man Texte schneller lesen können soll. Copy+Paste, ein Klick auf „Spreed“ und das Speed-Reading kann beginnen.
Als mir ein guter Freund 2008 diesen Dienst empfahl, fand ich das zunächst einmal aufregend. Kurze Zeit später verlor ich aber wieder das Interesse daran. Nun könnte man meinen, dass es vielleicht an der Usability lag: Wenn man den Text jedes Mal vorher kopieren und in deren Webseite einfügen muss, ist das ja viel zu umständlich. Aber nein, das ist es nicht. Wenn der Dienst wirklich so toll wäre, beispielsweise weil ich so viel Zeit dadurch spare, dann hätte ich diese paar Klicks auch in Kauf genommen. Aber anscheinend konnte mich Spreeder nicht nachhaltig genug für diese revolutionär neue Leseart begeistern, sodass ich schnell wieder in meine alten Gewohnheiten zurückfiel. Wie altmodisch.
Revolution 2.0, all over again
Acht Jahre später schreit das Web plötzlich auf:
Hey, hast du schon von diesem neuen Tool „Spritz“ gehört? Un-be-liev-able! Best Tool ever! Wird das Web revolutionieren.
Gähn. Seriously? Leute, das Teil ist vielleicht ein wenig Social Media- und Embed-freundlicher, aber im Grunde nur eine moderne Neuauflage von Spreeder. Nicht mehr und nicht weniger.
Als ich am 24. Februar zum ersten Mal von Spritz hörte, musste ich wie gesagt sofort an Spreeder denken und tweetete gelangweilt:
Das waren im Grunde meine 2 Cents zu diesem Thema, weil es aus meiner Sicht nicht mehr dazu zu sagen gibt. Heute würde man sagen: Been there, done that.
Innehalten, reflektieren, einordnen
Ein paar weiterführende Gedanken möchte ich dazu aber doch noch loswerden:
- Dinge, die früher ohne Facebook, Twitter und Co. gar nicht erst so weite Verbreitung fanden, können sich heute rasant schnell um den ganzen Globus verbreiten.
- Dadurch, dass wir pausenlos einem Hype nach dem anderen hinterherjagen, kommen wir nicht mehr dazu, einzuordnen und zu reflektieren – geschweige denn uns zu erinnern, dass es das ein oder andere Tool vielleicht schon mal in ähnlicher Form gegeben hat.
- Dadurch, dass es mittlerweile Smartwatches, Smartphones, intelligente Autos, Datenflut, Zeitdruck und permanente Erreichbarkeit gibt, könnte die Notwendigkeit für einen Dienst wie Spritz oder Spreeder in den letzten acht Jahren deutlich gestiegen sein.
Das führt mich zu meinem neuen Zwischenfazit: Dadurch, dass die Zeit nun reif für einen Speed-Reading-Dienst ist, könnte Spritz wider meines Erwartens tatsächlich erfolgreich sein. Ähnlich wie einst Steve Jobs mit seinem iPad Erfolg hatte, obwohl es bei Weitem nicht das erste Tablet auf dem Markt war. Timing is everything.
PS: Es ist interessant, die mediale Verbreitungskette von Spritz nachzuverfolgen: So bezieht sich t3n auf cnet, cnet wiederum auf Gizmodo und Gizmodo schließlich auf die eigentliche Quelle Learn 2 Spritz. Ein Hoch auf unser redundantes Internet! (Ich selbst habe von Golem.de davon erfahren und bin heute auf sueddeutsche.de erneut darüber gestolpert.)
Max Melzer meint
Oh mann, vielen Dank! Du sprichst mir aus der Seele. Das war auch das erste was ich gedacht hab‘, als ich dieses Spritz sah.
Auf der anderen Seite freue ich mich natürlich, wenn eine interessante Technologie durch geschicktes Marketing auch wahrgenommen wird. Das wird den Schnelllese-Markt vielleicht etwas in Gang bringen.