Seit Jahren diskutieren Medienmacher und Journalisten über Wandel und Perspektiven der Zeitungen – in der Regel mit wenigen Ergebnissen und noch weniger Neuem. In diese unrühmliche Tradition muss auch der Web-Talk des „Digitalen Quartetts“ Mitte August eingeordnet werden. „Zeitungskrise“ hieß zwar das Thema der acht Medienmacher und Journalisten, die sich 72 Minuten lang einen Schlagabtausch über die Zukunft des Journalismus lieferten. Leider wurde auch in dieser Runde hauptsächlich über Auswirkungen statt über die Wurzel des Übels diskutiert.
Aus dem Thema „Was wird aus der Zeitung?“ wurde im Digitalen Quartett nach wenigen Minuten „Was wird aus uns Journalisten?“. Das Problem war schnell erkannt, es folgten einige Lösungsansätze und Verbesserungsvorschläge der Hangout-Teilnehmer. Für uns Journalisten lauten die zwei wichtigsten davon:
- Journalisten müssen programmieren können (Datenjournalismus etc.) und Social Media beherrschen (schließlich sind doch Information und Kommunikation ihr Aufgabenfeld).
- Journalisten müssen unternehmerisch denken und sich selbst zur Marke machen („Meconomy“ & Survival of the fittest).
Was die Verlage anbelangt, müssten diese ihre Redaktionen vor allem digital fit machen, die tollsten CMS anschaffen, Programmierer einstellen sowie individuelle und maßgeschneiderte Inhalte an die jeweiligen Leser und deren Endgerät ausliefern.
Zwischen diesen Vorschlägen versuchte Richard Gutjahr darauf hinzuweisen, dass vielleicht die Inhalte selbst das Problem sein könnten. Die allgemeine Runde allerdings sah das Problem eher in der mangelnden personen-, interessen- und gerätegerechten Aufbereitung.
Warum sind die Inhalte so schlecht?
Das wahre Problem jedoch liegt tiefgreifender und setzt noch eine Stufe vor der mangelnden Qualität der Inhalte an. Die eigentliche Frage lautet: Warum sind die Inhalte so schlecht?
Ich vermute: aufgrund der fehlenden Haltung von uns Journalisten. Wolfram Weimer hat dazu auf Spiegel Online im Zuge der Zeitungsdebatte 2020 einen inhaltlich sehr lesenswerten Artikel geschrieben, der es gut auf den Punkt bringt, wie ich finde. Seine Kernaussage:
Wenn Zeitungen heute also sterben, wenn Medien immer mehr misstraut wird, wenn Journalisten ihrer Deutungsmacht beraubt werden, dann hat das auch damit zu tun, dass sie hundefutterartigen „Content for people“ produzieren, aber keine Geschichten und Wahrheiten mehr.
Dieser Zustand resultiert m. E. aus einer mangelnden Haltung von uns Journalisten. Wie erlangt man Haltung? Da sie einige von uns anscheinend nicht mehr von Haus aus mitbekommen, ist ein nachträgliches Erlernen umso wichtiger. Ethikkurse – und das nicht nur einmal – wären hier insbesondere in den journalistischen Ausbildungen (Volontariate, Journalistenschule, Studiengänge) dringend angebracht.
Was ist schon Wahrheit?
In meinen vier Jahren Online-Journalismus-Studium hatte ich gerade einmal einen Ethik-Kurs. Der Professor war bereits pensioniert und die Kommilitonen größtenteils völlig desinteressiert. Die Fragen des Professors waren trotz oder gerade wegen seines hohen Alters sehr gut und wichtig – die Antworten aber zum Teil umso erschreckender. Moralische Vorstellungen und gesunde, notwendige Werte? Überflüssig bzw. überholt. Idealismus können wir uns nicht (mehr) leisten, allein das Geld ist entscheidend – „von irgendwas müssen wir ja schließlich leben“, so der Tenor.
Das Richtige tun? Der Wahrheit am nächsten kommen? Nicht sexy genug. Zu teuer. Und überhaupt: Was ist schon Wahrheit?
Warum werden wir Journalisten?
Aufgrund solcher nicht vorhandener Diskussionen frage ich mich: Warum machen wir diesen Job eigentlich? Warum werden wir Journalisten? Wenn es wirklich nur darum geht, Geld zu verdienen: dann bitte, bitte macht einen anderen Job. Mit fast jedem Beruf hat man bessere Chancen auf eine Festanstellung und ein gesichertes Grundeinkommen.
Freie Journalisten gehören nicht umsonst zu der Künstlersozialkasse. Weil sie Künstler sind. Das gilt auch für festangestellte Redakteure. Wir Journalisten sind Künstler. Aus meiner Sicht konzentrieren wir uns derzeit aber viel zu sehr darauf, Überlebenskünstler zu sein – und irgendwie mit wenig Geld über die Runden zu kommen. Geld bestimmt unser Denken – und damit auch unser Handeln. Berufsethos können wir uns schlicht nicht mehr leisten. Glauben wir zumindest.
Daher meine beiden Appelle (über die wir gerne in den Kommentaren diskutieren können):
- Überlegt euch gut, warum ihr Journalisten werden wollt. Aus dem Warum folgt das Wie und Was (siehe den großartigen TED-Talk von Autor Simon Sinek).
- Gewinnt eine Haltung. Zu eurem Beruf, euren Mitmenschen, eurem Leben, euch selbst. Besucht Ethikkurse, diskutiert mit Kollegen und Freunden über Werte und Moral, reflektiert euer Handeln und macht euch Gedanken darüber, was richtig und falsch ist, was man wie besser machen könnte – und warum man etwas tun oder nicht tun sollte.
Und dann tut das auch! Lebt es. Eckt an, seid unbequem, habt Mut, fragt nach, deckt auf, prangert an. Macht einen Unterschied. Denn dann werdet ihr auch wieder relevant – und gefragt. Relevantes ist heute im Strom der Gleichgültigkeiten wichtiger denn je.
Ihr könnt mit Worten wie Werte und Moral, Ethik und Haltung nichts anfangen? Dann schaut beim Pressekodex vorbei, der ein hervorragender Ausgangspunkt ist, um darüber nachzudenken.
Der Pressekodex ist eine Sammlung journalistisch-ethischer Grundregeln, die vom Deutschen Presserat in Zusammenarbeit mit den Presseverbänden 1973 beschlossen wurden. Die aktuelle Fassung stammt vom 13. März 2013. Verleger und Journalisten haben sich freiwillig dazu verpflichtet, die darin formulierten publizistischen Grundsätze einzuhalten.
Auszug aus dem Pressekodex (Hervorhebungen im Text durch den Autor):
Präambel
(…) Verleger, Herausgeber und Journalisten müssen sich bei ihrer Arbeit der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und ihrer Verpflichtung für das Ansehen der Presse bewusst sein. (…) Die publizistischen Grundsätze konkretisieren die Berufsethik der Presse. (…)
Ziffer 1 – Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde
Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. (…)
Ziffer 2 – Sorgfalt
Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben.
Mehr Schein als Sein?
Zwei abschließende Gedanken über das bereits Gesagte hinaus:
Erstens: So unsexy es auch erscheinen mag: Das Handwerkszeug ist beim Journalismus nach wie vor enorm wichtig. Und dabei meine ich vor allem die Recherche. Ich erlebe es immer häufiger, dass gerade Online-Journalisten ausschließlich online recherchieren und nicht mehr anrufen oder vorbei kommen. Greift zum Hörer! Geht raus! Sprecht mit den Leuten! E-Mail und Google ist schön und gut, aber eben nur ein Teil unserer Recherche. Daher nochmal: Recherche, Recherche, Recherche! Und: Sauberes und vorurteilsfreies(!) Recherchieren setzt eine vorhandene Berufsethik voraus.
Zweitens: Berücksichtigt die Introvertierten unter euch! Heute haben anscheinend diejenigen das Sagen, die am lautesten schreien. Ich wünsche mir aber, dass auch die gehört werden, die wirklich was zu sagen haben. Und das sind häufig die ruhigeren, stilleren, reflektierten Menschen – kurz: die introvertierten Menschen. Sie haben es oftmals sehr viel schwerer, einen Job zu bekommen oder sich a) selbst zu vermarkten und b) in sozialen Netzwerken aktiv zu sein. Beides wird heutzutage aber zusehends gefordert. Es kommt nicht mehr darauf an, wie gut man ist (= Sein), sondern wir gut man sich präsentiert und verkauft (= Schein). Das ist falsch!
Fazit: Die Frage nach der Wahrheit ist für einen besseren Journalismus unerlässlich.
Stefan Wehmeier meint
Die Irrelevanz der Moral
Sind die Basis allen menschlichen Zusammenlebens (Makroökonomie) und die grundlegendste zwischenmenschliche Beziehung (Geld) falsch, ist alles falsch, was das menschliche Zusammenleben im weitesten Sinne betrifft. Angebot und Nachfrage sind nicht im Gleichgewicht, es entstehen Konjunkturen und Krisen, systemische Ungerechtigkeit, der Zwang zur Lüge, Kriege, Terrorismus, Kriminalität, Umweltverschmutzung und -zerstörung, materielle und geistige Massenarmut, Fehlernährung – bis hin zur genetischen Degeneration.
Solange die makroökonomischen Konstruktionsfehler nicht erkannt sind, hält der in „diese Welt“ Hineingeborene die Gesellschaft für „normal“ (es bleibt ihm ja nichts anderes übrig) und erkennt die zahlreichen Negativsymptome einer a priori fehlerhaften Makroökonomie nicht als deren zwangsläufige Folgen, sondern interpretiert sie als vermeintliche Folgen einer „Boshaftigkeit des Menschen“ – die wiederum durch eine „Moral“ zu verbessern sein müsste.
Die irrationalen, jedoch vom „Normalbürger“ als „vernünftig“ (auch hier bleibt ihm ja nichts anderes übrig) gedachten Moralvorstellungen bestimmen die Entwicklung von Kulturen über Jahrhunderte und Jahrtausende und führen letztlich dazu, dass nicht nur die Makroökonomie allgemein unverstanden bleibt, obwohl sie nach dem tatsächlichen Stand des Wissens längst korrigiert sein müsste, sondern die „Moral“ wird von der „etablierten Wissenschaft“ sogar als „entscheidender Vorteil“ des Menschen in der gesamten Evolution angesehen.
Unterstützt wird die „Moral“ von der Religion, deren ursprünglicher Zweck es war, die elementaren makroökonomischen Konstruktionsfehler aus dem Begriffsvermögen des arbeitenden Volkes auszublenden, damit es überhaupt zu einer Kulturentwicklung kommen konnte; denn kein vernünftiger – nicht religiös verblendeter – Mensch wäre dazu bereit, in einer noch fehlerhaften Makroökonomie zu arbeiten, wenn er weiß, dass ein nachhaltiges Wirtschaften unmöglich und der nächste Krieg systemnotwendigerweise unvermeidlich ist.
Damit wurde der Krieg zum „Vater aller Dinge“, was er jedoch nur solange sein konnte, wie es noch keine Atomwaffen gab! Das heißt nun nicht, dass ein „Frieden durch ultimative Abschreckung“ möglich wäre. Um unsere ganze „moderne Zivilisation“ – von einem Tag auf den anderen! – auszulöschen, ist es nicht erforderlich, dass irgendein wahnsinniger Präsident den „roten Knopf“ betätigt – es reicht schon aus, wenn wir gar nichts machen!
http://www.deweles.de/intro.html
Thomas Gern meint
Hallo. Ich glaube, dass die meisten Journalisten, schon interessante Texte zu sehr vielen Themen verfassen könnten, das von der Chefredaktion aber gebremst wird. Anders kann ich mir nicht erklären, dass viele Zeitungen/Zeitschriften über Monate und Jahre wirken, wie von einer Person verfasst. Wer mal mit Journalisten redet, erfährt auch, dass es für jede Geschichte eine Marschrichtung gibt. Falls nicht, kommt der Text mit Änderungsvorschlägen zurück und der Journalist tut gut daran zu memorieren, was erwünscht ist und was nicht. Ich lese auch bei Online-Zeitungen mit am liebsten die Blogs. Erst wenn die Journalisten frei argumentieren dürfen, ist häufig erkennbar, was ihre Ideen zu einem Thema wert sind. Bei den meisten gedruckten Tages- und Wochenzeitungen habe ich den Eindruck, dass die hart daran arbeiten, sich selbst abzuschaffen. Wir kennen den Effekt aus der Politik, alle meinen, dass in der Mitte der größte Fang zu machen sei. Gemischt mit freundlichen Nebensätzen über Belange, die auch die Werbenden in den Druckwerken interessieren, sind das dann Texte, die man nicht mehr unbedingt käuflich erwerben will. Grüße und viel Glück mit Shift.