Sie werden vergewaltigt, ermordet oder nie geboren. Überall auf der Welt stehen Frauen dafür auf, dass ihre Rechte und ihr Leben geschützt werden. Doch es reicht nicht aus.
Im Februar 2014 wurde Loretta Saunders toter Körper gefunden. Loretta ist eine von vielen kanadischen Frauen, die aufgrund ihrer Herkunft ermordet wurden. Sie gehört zu einer der indigenen Gruppen, die in Kanada leben. Nach Angaben der kanadischen Polizei stellen kanadischen indigene Frauen acht Prozent der Mordopfer zwischen 2004 und 2010 dar, obwohl ihr Anteil an der weiblichen Bevölkerung nur bei vier Prozent liegt. Eingeborene Frauen sind drei Mal gefährdeter, Opfer von Gewalt zu werden, als andere Frauen in Kanada.
Eines dieser Opfer war Loretta, die am 13. Februar dieses Jahres ermordet wurde. Ihr Tod brachte Aktivisten dazu, eine öffentliche Untersuchung der Gewalt an eingeborenen Frauen von der kanadischen Regierung zu fordern. Doch die lehnte diese Forderung vor zwei Wochen ab. Und dass, obwohl die Native Women’s Association of Canada mindestens 582 Morde an eingeborenen Frauen über die letzten Jahrzehnte zählt.
Leider ist Kanada mit dieser Problematik kein Einzelfall.
Frauen für die Müllkippe oder eine Müllkippe für Frauen
Sie werden „Las muertas de Juárez“ (die weiblichen Toten von Juárez) genannt. Sie, das sind hunderte von Frauen und jungen Mädchen, die im mexikanischen Staat Chihuahua über die Jahre aufgrund ihres Geschlechts ermordet wurden. Dafür gibt es in Mexiko sogar ein eigenes Wort: feminicidio – zu Deutsch Genderzid oder Frauenmord. Nach Angaben von Amnesty International wurden seit Mitte der 1990er Jahre mehr als 370 Frauen in Ciudad Juárez ermordet. Einige waren Opfer häuslicher Gewalt, andere fielen dem organisierten Verbrechen und den Drogenkartellen zum Opfer, ein Drittel von ihnen wurde vergewaltigt.
Ihre Leichen werden irgendwo zwischen Müllbergen in der mexikanischen Wüste gefunden, an dem Ort, den man „vertedero de mujeres muertas“ (Müllkippe der toten Frauen) nennt. Ein Großteil dieser Morde wird nie aufgeklärt und viele der Täter werden nie verurteilt. Seit der ehemalige mexikanische Präsident Felipe Calderón Ende 2006 den Drogenkartellen den Kampf ansagte, tobt die Gewalt. In Konfliktregionen werden Frauen oft als zu eroberndes Gebiet gesehen. Vergewaltigung und Morde an Frauen werden bewusst eingesetzt, um den Feind und die lokale Bevölkerung einzuschüchtern. Im Norden Mexikos, einem Schlachtplatz der Drogenkriege, schnellte die Zahl der getöteten Frauen zwischen 2001 und 2010 um mehr als 500 Prozent in die Höhe.
Keine dieser Zahlen spricht über die vielen Frauen, die einfach spurlos verschwanden. Oder die Leichen, die so verstümmelt waren, dass man das Geschlecht nicht mehr erkennen konnte. Zwischen 2011 und 2012 verschwanden rund 4.000 Frauen in Mexiko. Auch Migrantinnen aus anderen zentralamerikanischen Staaten auf dem Weg in die USA werden auf ihrem Weg durch Mexiko Opfer von Gewalt. Sechs von zehn Frauen werden auf der Durchreise vergewaltigt, viele von ihnen in die Zwangsprostitution gehandelt, die ein sehr lukratives Geschäft ist – nicht nur in Mexiko.
Aufgrund von internationalem Druck erließ Mexiko 2007 ein Gesetz, das den Frauenmord als die extremste Form der Gewalt an Frauen definierte. Das Gesetz sollte dieser Gewalt vorbeugen und Opfer schützen. Aber es geschah nicht viel. Gewalt gegen Frauen ist in Mexiko so weit verbreitet, dass diejenigen, die sich des Problems nicht annehmen, keine Konsequenzen fürchten müssen.
Der Makel ein Mädchen zu sein
Geschlechtsspezifische Gewalt kann aber auch sehr viel subtilere Formen annehmen: zum Beispiel bei der Genitalverstümmelung (Femal genital mutilation FGM). Obwohl Genitalverstümmelung international als Verstoß gegen die Menschenrecht von Frauen und Mädchen anerkannt wurden, sind 125 Millionen Frauen weltweit als Kind oder Jugendliche beschnitten worden – vorrangig in Ländern Nordostafrikas oder im Nahen Osten. Jedes Jahr erhöht sich diese Zahl um weitere zwei Millionen. Das ist ein Mädchen alle 15 Sekunden. Auch in Deutschland leben offiziell rund 20.000 genitalverstümmelte Frauen, doch die Praxis gilt in unserem Staat als Körperverletzung und ist mit Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren strafbar.
Eine noch weniger sichtbare Form der Gewalt gegen Frauen ist die gezielte bzw. selektive Abtreibung von Mädchen, wie sie vor allem in Ländern wie China, Indien oder im Kaukasus praktiziert wird. Die UN schätzt, dass weltweit 200 Millionen Mädchen „fehlen“. Sie „fehlen“, weil sie entweder selektiv abgetrieben wurden, als Kleinkind getötet wurden oder starben, weil sie weniger Nahrung bekamen als ihre männlichen Geschwister.
Schon 1990 stellte der indische Nobelpreisträger Amartya Sen in einem Essay fest, dass „mehr als 100 Millionen Frauen fehlen“. Die Folgen sind weitreichend: Weil in Ländern wie Indien und China Millionen von Frauen fehlen, boomt in Nachbarländern der Frauen- und Heiratshandel. Nicht nur wird Millionen Frauen das Leben schon vor oder kurz nach der Geburt versagt. Diejenigen, die geboren werden, müssen Zwangsprostitution oder Zwangsverheiratung fürchten.
Das drittgrößte Land der EU
Wer glaubt, dass Gewalt gegen Frauen nur in anderen Teilen der Welt vorkommt, der irrt. In Europa sind 62 Millionen Frauen bereits Opfer von Gewalt geworden. Wären sie eine Nation, dann wären sie das drittgrößte Land der EU. Zu diesem Ergebnis kommt eine großangelegte Studie der Europäischen Agentur für Grundrecht (FRA). Ein Drittel der Frauen zwischen 15 und 74 Jahren in der Europäischen Union geben an, „körperliche und/oder sexuelle Gewalt“ erfahren zu haben – das entspricht 62 Millionen Frauen. Zwölf Prozent der Befragten gaben an, bereits als Kinder Opfer von sexueller Gewalt geworden zu sein und über die Hälfte der Befragten hatte „irgendeine Form sexueller Belästigung“ erlebt. Das allein ist schon erschreckend genug. Noch schlimmer ist jedoch folgende Statistik: 67 Prozent der Frauen meldeten die Vorfälle innerhalb einer Partnerschaft weder der Polizei noch einer Hilfsorganisation.
Als im Dezember 2012 eine junge Inderin so brutal vergewaltigt wurde, dass sie an den Verletzungen starb, ging ein Aufschrei um den Globus. Die vier Angeklagten bekamen die Todesstrafe – eine furchtbare Strafe für eine furchtbare Tat. Doch Gewalt gegen Frauen wird nicht mit einer Verurteilung beendet. Solange eine Gesellschaft akzeptiert, dass Mädchen und Frauen weniger wert sind als ihr männliches Counterpart, werden Missbrauch, Demütigung und Ausbeutung weiter bestehen. Und da ist die indische Gesellschaft beileibe nicht allein.
Und nein, dies ist kein Thema, über das geschwiegen wird. Viele Initiativen, Aktivisten und Politiker kämpfen gegen die unterschiedlichen Formen der Gewalt gegen Frauen. Doch Gesetze und Resolutionen werden wenig bewirken, wenn nicht auch in der Gesellschaft ein Umdenken stattfindet. Dieses Umdenken wird derzeit vorrangig von Frauen eingefordert, die für ihre Rechte und Schutz für ihr Geschlecht einstehen. Nachhaltig und wirksam wird dieser Kampf jedoch erst, wenn auch Männer bzw. noch mehr Männer für die Rechte der Frauen aufstehen. Denn dann hat ein Umdenken, eine gesellschaftliche Revolution, begonnen.
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