Adolf Katzenmeier hat von 1963 bis 2008 als Physiotherapeut beim DFB gearbeitet und somit alle deutschen Bundestrainer kennengelernt – von Sepp Herberger bis Joachim Löw. Wenn er an die WM 1990 zurückdenkt, fallen ihm vor allem abenteuerliche Busfahrten sowie die Gastfreundschaft der Italiener ein. Aber auch ein heftiger Knatsch mit einem Spieler, dem er sich besonders verbunden fühlte.
Eigentlich hat sich Adolf Katzenmeier ja immer mit allen Nationalspielern gut verstanden. „Jeder Spieler war für mich eine Aufgabe“, sagt der 79-Jährige und betont, zu allen ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt zu haben. Dabei hat der langjährige Physiotherapeut in Diensten des Deutschen Fußballbundes (DFB) so ziemlich alles miterlebt, was im deutschen Fußball Rang und Namen hat: von Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß über Lothar Matthäus und Rudi Völler bis hin zu Miroslav Klose und Michael Ballack.
Aber einmal, da gab es richtig Stunk: ausgerechnet bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien, an die Katzenmeier so viele schöne Erinnerungen hat. Und ausgerechnet mit einer seiner „Aufgaben“, der er sich besonders verpflichtet fühlte: dem Mittelfeldspieler Uwe Bein, der bei Eintracht Frankfurt spielte, Katzenmeiers Heimatverein.
In der Mainmetropole besitzt der Physiotherapeut bis heute eine Praxis. Etwas mühsam zieht er sich dort eine Treppe hinauf, das Geländer mit beiden Händen fest umklammert. Jedes Mal, wenn er das tut, hält seine Frau Silvia, die am Empfang sitzt, kurz die Luft an. Vor einer Woche lag ihr Mann noch im Krankenhaus, weil er sich einen Wirbel gebrochen hatte. Diese Woche massiert er schon wieder Patienten. Eben hat er eine Frau behandelt, die extra aus Nordrhein-Westfahlen angereist war. „Wer hier alles herkommt, das können Sie sich gar nicht vorstellen“, schmunzelt Katzenmeier.
Die Sache mit Uwe Bein
Oben angekommen, setzt er sich in der kleinen Küche an den Tisch. Nur eine kleine Lampe spendet Licht, es ist furchtbar düster in dem Raum, doch Katzenmeier fühlt sich wohl. Entspannt lehnt er sich auf seinem Stuhl zurück. Katzenmeier ist ein kleiner, dünner Mann, der mit seinem Schnurbart und den weißen Locken ein wenig an Comic-Gallier Asterix erinnert. Draußen ist es bullenwarm, trotzdem trägt Katzenmeier ein langärmliges, kariertes Hemd, darüber eine schwarze Weste und darunter ein schwarzes Trainings-Shirt. Die Anzughose hat er weit über den Bauchnabel gezogen, um den Hals trägt er gleich zwei Ketten.
An die Sache mit Uwe Bein erinnert sich Katzenmeier noch genau. So, wie er sich an sein ganzes Leben zu erinnern scheint: Wie er 1963 mit der Hockey-Nationalmannschaft bei der Vor-Olympiade sieben Spiele an 13 Tagen bestreiten musste. Wie er im selben Jahr Bundestrainer Sepp Herberger in Köln bei einem Vortrag des damaligen DFB-Chef-Masseurs Erich Deuser kennenlernte und anschließend von Herberger zum DFB geholt wurde. Wie er 1965 Franz Beckenbauer, Berti Vogts und Horst Köppel in der Jugend-Nationalmannschaft betreute. Und, und, und.
Ständig schweift Katzenmeier ab. Zu jedem Namen fällt ihm eine Geschichte ein, zu jedem Ereignis eine Anekdote. Hockey-Bundestrainer Hugo Budinger habe ihm damals einen „Bomben-Bericht“ ausgestellt, als der DFB ein Empfehlungsschreiben verlangte. Und, ach ja, die Vor-Olympiade hätten sie mit der Hockey-Nationalmannschaft dann auch noch gewonnen.
„Das hatte gesessen!“
Also. Uwe Bein. Katzenmeier stand am Rand eines Fußballplatzes in Turin, auf dem sich die Mannschaft gerade auf das Halbfinale gegen England vorbereitete. Zusammen mit Hans-Jürgen Montag, dem zweiten Physiotherapeuten, beobachtete er gespannt, was sich im Mittelkreis des Feldes tat. Dort unterhielt sich Trainer Franz Beckenbauer gerade mit dem Frankfurter Mittelfeldregisseur. Plötzlich stapfte Bein verärgert davon. „Da hat er ihm gesagt, dass er nicht spielt“, erzählt Katzenmeier und reißt die Augen auf. „Bumm!“, schreit er. „Das hatte gesessen!“
Dass Bein im Halbfinale gegen England auf der Bank sitzen würde, hatte Katzenmeier schon geahnt. Denn kurz vorher hatte Franz Beckenbauer – den Katzenmeier übrigens bis heute sehr schätzt – ihn gefragt, ob er denn mit Gewissheit sagen könne, dass Bein „130 Prozent“ fit sei. Im Viertelfinale war der Mittelfeldregisseur mit einer Prellung vom Platz gehumpelt. Katzenmeier gab alles, um Bein rechtzeitig wieder fit zu kriegen. „Ich habe Tag und nach an ihm rumgeknetet!“, erinnert sich der Masseur. Aber 130 Prozent? „Da hätte ich lügen müssen“, beteuert Katzenmeier. Deshalb antwortete er mit nein, worauf Beckenbauer seinem Spieler erklärte, dass er nicht auflaufen werde. Den Platz neben Lothar Matthäus nahm stattdessen Thomas Häßler ein, der seine Sache so gut machte, dass er auch im Finale ran durfte, als Beins Verletzung längst wieder auskuriert war.
Das fand Uwe Bein habe das gar nicht witzig gefunden und schnell einen Schuldigen ausgemacht, berichtet Katzenmeier: den Physiotherapeuten. „Du Arschloch!“, soll Bein ihn angeschrien haben, „Warum sagst du sowas?“ Es folgten mehrere Tage Funkstille. Aber schnell klärte sich der Streit wieder und am Ende konnten beide gemeinsam den Titel feiern.
Zu allen Spielen mit dem Bus
Bis auf diesen Streit hat Katzenmeier die WM in Italien in schöner Erinnerung. Vor allem die Abende nach den Spielen. Bis zum Halbfinale gegen England bewohnte die Mannschaft ein Hotel in Erba, einem Dorf mit 16.000 Einwohnern im Norden Italiens. Zu allen Spielen ging es mit dem Bus – und in der Nacht danach wieder zurück nach Erba, was manchmal etwas mühsam war. „Das kannste dir nicht vorstellen“, sagt Katzenmeier und schüttelt den Kopf. „Nachts um halb zwei sind wir durch die Dörfer gekurvt.“ Einmal blieb der Bus an der Einfahrt zur Tiefgarage des Hotels hängen, wobei die Lüftungsanlage auf dem Dach des Fahrzeugs abriss.
Da viele deutsche Spieler – etwa Rudi Völler, Lothar Matthäus oder Thomas Häßler – damals in Italien spielten, genoss die Mannschaft bei den einheimischen Fans hohes Ansehen. Und die Italiener waren es, die die nächtlichen Busfahrten erträglich machten. Katzenmeiers Augen beginnen zu glänzen, als er sich erinnert. Die Fans seien neben dem Bus hergelaufen und hätten auf Balkonen gestanden, berichtet er. „Aleman! Germany“, hätten sie gerufen, „egal, wo wir hingekommen sind!“ Und die italienischen Frauen hätten sich Fahnen umgewickelt. „Das hat sehr gut ausgesehen“, urteilt Katzenmeier.
Die Krönung folgte aber laut Katzenmeier nach dem Finale. Gegen 23:30 Uhr verspeisten die Spieler in ihrem Hotel in Rom gerade ein Eis zum Nachtisch, Franz Beckenbauer hatte sein Amt als Teamchef bereits niedergelegt und an Berti Vogts übergeben. „Plötzlich tut’s einen Schlag“, sagt Katzenmeier in Zeitlupe. Die Hotel-Mitarbeiter baten die Mannschaft nach draußen. Aber nicht wegen eines Notfalls, sondern, damit sie sich das Feuerwerk angucken konnten, dass das Hotel extra organisiert hatte. Katzenmeier schüttelt eifrig den Kopf. „Unglaublich“, sagt er, „ein tolles Feuerwerk.“ So etwas hatte selbst Katzenmeier zuvor in seinen vielen Jahren beim DFB nicht erlebt.
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