Eigentlich ist es ja löblich, dass sich Fernsehsender wie die ARD an so kontroverse und tabuisierte Themen wie „Prostitution“ heranwagen – und dem sogar eine Recherche über zwei Jahre widmen. Weniger löblich ist jedoch das Ergebnis. Aus mehreren Gründen.
Wie bereits am vergangenen Montag unser Gastautor Andreas Grieß schrieb, lässt die ARD-Doku viele Fragen offen. Für jemanden, der sich mit dem Thema nicht auskennt, wird weder klar, worin die Gesetzesänderungen bestehen, von denen immer wieder die Rede ist; noch bekommt der Zuschauer einen umfassenden Überblick über das Milieu. Stattdessen werden ihm lediglich viele Fragmente geliefert, doch eine Einordnung durch die Autoren findet nicht statt.
Das Problem sind aber nicht die offenen Fragen. Denn Prostitution ist ein komplexes und weites Feld, das unmöglich in einer einzigen Dokumentation dargestellt und diskutiert werden kann. Das Problem ist die fehlende Kritik.
Zu Beginn der Sendung entsteht das Gefühl, es würde für unterschiedliche Arten der Prostitution Werbung geschaltet werden. Wer sich vorher noch nie damit befasst hat, wird verblüfft sein, wo und wie die Damen (und einige Herren) überall ihren Körper verkaufen können. Dabei haben die Autoren keinen Skrupel vor expliziten Bildern –expliziter als sie hätten sein müssen. Was ist die Absicht dahinter? Für den Zuschauer wirkt das eher wie ein Versuch, potenzielle Kundschaft anzuwerben.
„Wir brauchen die Männer“, sagt eine der porträtierten Pornodarstellerinnen gleich zu Anfang. Was so einleuchtend klingt, wird jedoch kaum thematisiert: die Nachfrage. Auch wenn das Thema Prostitution in letzter Zeit immer wieder mal in den Medien auftaucht, tauchen Freier (die Nachfrageseite) sehr selten auf. Und das, obwohl täglich 1,2 Millionen Männer für sexuelle Dienste bezahlen. So gesehen überraschte es fast schon – positiv! –, dass diese Dokumentation auch einige Freier zu Wort kommen lässt.
Doch die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten. Diese von Männern dominierte Welt und Sichtweise wird von den Journalisten in keiner Weise kritisiert oder in Frage gestellt. Wenn ein Freier erzählt, dass er Flatrate-Bordelle gut findet, weil er dann nicht mehr das Gefühl haben muss, ausgebeutet zu werden, wird das unkommentiert stehen gelassen. Dass im Gegenzug heute Tausende von Frauen für eben diese Flatrate-Bordelle ausgebeutet werden, bleibt unerwähnt. Dass sie es sind, die bezahlen, wenn ein Mann für 49 Euro Sex und Drinks so viel er will bekommt, scheint hier niemanden zu interessieren. Wenn der Flatrate-Bordellbetreiber Sascha Erben sagt „Der Mann möchte Mann spielen. Das ist alles.“, dann trifft er den Nagel auf den Kopf. Und die Autoren lassen den Mann Mann spielen.
Erst am Ende der Dokumentation wird dieser gesellschaftliche Missstand dann doch mit zwei Sätzen erwähnt: „Die Frau wird zu Ressource, die so effizient wie möglich genutzt wird. Außerhalb dieses Tauschgeschäftes aber verliert sie ihren Wert.“ Alleine diese Aussage hätte eine Dokumentation verdient, wenn die Bedeutung dieses Satzes für die Gesellschaft zu Ende gedacht würde. Stattdessen wird einmal mehr keine Kritik an den Freiern geübt, obwohl es gerade dort so viel zu kritisieren gibt.
Die Ökonomisierung der Lust. Interessanterweise befasst sich der Beitrag mit der wirtschaftlichen Seite der Prostitution, was in anderen Beiträgen meistens sehr kurz kommt. Was einmal als Liebesakt bekannt war, verkommt in der Prostitution zum Tauschgeschäft, heißt es. Maßstab ist allein das Geld. Und das interessiert nicht nur inzwischen allerseits bekannte Bordellbetreiber wie Jürgen Rudloff oder Armin Lobscheid, sondern auch den Staat. Es wird erklärt, dass Unternehmen wie das Paradise in Stuttgart oder der Pascha in Köln ordentliche Sümmchen an den Staat abdrücken. Für den Pascha wird eine Summe im siebenstelligen Bereich genannt, die jährlich an Steuern abgeht. Unklar bleibt jedoch, wie viel insgesamt für den Staat aus dem Geschäft herausspringt. Die Tatsache, dass eigens für dieses Milieu eine Vergnügungssteuer erfunden wurde, lässt vermuten, dass dieses Geschäft lukrativ ist – eben auch für den Staat. Dass es sich ohne Zweifel um immense Summen handeln muss, zeigt das Zitat von Paradise-Pressesprecher Michael Beretin: „Der Staat ist im Prinzip der neue Zuhälter geworden.“ Doch der deutsche Staat scheint sich nicht daran zu stören, dass Deutschland im Ausland als größtes Bordell Europas bekannt ist. Geld regiert eben doch die Welt.
Zusätzlich wäre es interessant, deutsche Prostituierte zu porträtieren, die dem Geschäft unfreiwillig nachgehen oder von Partnern gezwungen werden. Auf jeden Fall hätte dieser Aspekt mehr Beachtung verdient. Stattdessen kommen in dem ARD-Beitrag überwiegend sogenannte „selbstbestimmte“ Prostituierte und Pornodarstellerinnen vor. Der Zuschauer – vor allem der unwissende – bekommt so das Gefühl, dass die Frauen den Job gerne machen, dass dies auf die meisten zutrifft und dass deswegen ja auch alles okay ist.
Die Verantwortlichen: Leider verpasst es die Dokumentation, auch Verantwortliche konkret zu benennen. Stattdessen schieben Bordellbetreiber den Schwarzen Peter „dem Staat“ zu. So bleibt die Frage nach der Verantwortung abstrakt und im Endeffekt unberührt. Denn „der Staat“ sieht in diesem Fall derzeit keinen Handlungsbedarf. Dass es aber Handlungsbedarf gibt, hätte die Dokumentation aufzeigen können. Leider haben die Autoren diese Chance versäumt. Wenn es das Ziel des Beitrages war, den Status quo zu kritisieren, dann hätte diese Kritik sehr viel gezielter geäußert werden müssen. Es sind konkrete Personen (Politiker), die vor gut elf Jahren Unternehmern wie Jürgen Rudloff den Weg ebneten und dem Staat eine neue Einnahmequellen schufen. Es sind auch konkrete Personen dafür verantwortlich, dass an dem Gesetz von 2002 bisher nichts geändert wurde, obwohl bereits 2007 in einem Gutachten des BMFSFJ deutlicher Nachbesserungsbedarf eingeräumt wurde. Warum werden diese Personen nicht zur Verantwortung gezogen?
Moritz meint
Interessant, wie sich die Eindrücke unterscheiden: Ich hatte durchaus das Gefühl, dass in der Dokumentation scharf kritisiert wird (beispielsweise im Fall der Flatrates, wo wirklich klar gesagt wurde, dass es sich um ein für den Betreiber rentables Modell handelt, unter dem aber viele Prostituierte zu leiden haben).
„Was die ARD vergessen hat?“ sehe ich hingegen ganz genauso: Bei Zwangsprostitution hat sich der Beitrag sehr zurückgehalten und die Beantwortung der „Schuldfrage“ hat ebenfalls viel zu kurz gegriffen.
uschifick meint
Wo sind die offiziellen Zahlen, daß 60% Zwangsprostituierte sind? Warum werden nur Stellen befragt, die gegen Prostitution sind? Warum werden nicht die gut organisierten Sexworker selber befragt (www.sexworker.at)? Warum nicht die Beratungsstellen, die Pro-Prostitution sind?
Und warum meinen immer alle, sie könnten darüber was schreiben, die mit der Szene nichts zu tun haben?
Und, zum Nachdenken: wenn ich über die Zustände in Zahnarztpraxen und deren Kundschaft schreiben wollen würde – da würde ich mir nur die schlecht organisierten Praxen vornehmen, die Kunden mit schlechten Zähnen haben oder wo eine Zahn-OP schief ging.
Ist so wie mit der Rumänin, die unter schlechten Bedingungen arbeitet.
Redaktion meint
@uschifick
1. Zunächst einmal haben wir in unserem Artikel nicht behauptet, dass 60% der Prostituierten Zwangsprostituierte sind. Wir haben darauf hingewiesen, dass mindestens 60% der in Deutschland tätigen Prostituierten aus dem Ausland kommen (woher diese Zahlen stammen, siehst du, wenn du auf die Verlinkung klickst!). Gleich im nächsten Satz haben wir darauf hingewiesen, dass die Herkunft nicht mit Zwangsprostitution gleichzusetzen ist.
2. Deine Kritik, dass nicht Pro-Prostitution-Akteure befragt wurden, finden wir in diesem Fall nicht ganz berechtigt. Denn genau das war ja unser Aufhänger für diese Kritik. In der ARD-Dokumentation wurden unseres Erachtens nämlich schwerpunktmäßig gerade Akteure zitiert, die Pro-Prostitution sind. Mit unserem Artikel wollten wir auf die andere Seite hinweisen, die unserer Meinung nach zu kurz kam.
3. Was deinen letzten Punkt mit dem Zahnarztpraxis-Beispiel angeht: Jeder, der sich etwas intensiver mit der Prostitutions-Problematik beschäftigt, wird schnell feststellen, dass offizielle Zahlen fehlen. Es ist also ebenso wenig bewiesen, dass die Mehrheit der Bordelle ein angenehmes Umfeld für in der Prostitution tätige Frauen schafft bzw. für menschenwürdige Bedingungen sorgt.