Die EU-Kommission hat gestern eine neue Studie zum Menschenhandel in Europa vorgestellt. Das Ergebnis ist wenig erfreulich: Die Zahl der Opfer hat weiter zugenommen, doch immer weniger Täter landen hinter Gittern. Und Deutschland schaut bloß zu.
Vor zwei Jahren erließ die EU-Kommission neue Richtlinien im Kampf gegen den Menschenhandel, die von allen 27 EU-Staaten umgesetzt werden sollten. Dabei geht es vor allem um eine schärfere Verfolgung und Bestrafung der Täter, sowie um besseren Schutz der Opfer. Zwei Jahre später haben dies lediglich sechs EU-Staaten (Tschechien, Lettland, Finnland, Ungarn, Polen und Schweden) geschafft, Deutschland ist nicht unter ihnen.
Stattdessen sank in Deutschland die Zahl der verurteilten Menschenhändler von 2008 bis 2010 um 15 Prozent. Auch EU-weit gab es 2010 ganze 200 Verurteilungen weniger als im Jahr 2008. In der gleichen Zeit ist die Zahl der Opfer des Menschenhandels jedoch angestiegen, von 6.309 im Jahr 2008 auf 9.528 im Jahr 20101. Der Markt für den Handel mit Menschen wächst weiterhin. Weltweit ist Menschenhandel der zweitgrößte Markt des organisierten Verbrechens, gleich hinter dem Drogenhandel. EU-Kommissarin Cecilia Malmström sagte: „Ich bin sehr enttäuscht, dass trotz dieser alarmierenden Tendenzen nur wenige Länder die Vorschriften gegen den Menschenhandel bisher umgesetzt haben. Ich fordere die, die das bisher nicht getan haben, auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen.“
Würden die Richtlinien konsequent umgesetzt, hätten sie das Potenzial „eine tatsächliche Auswirkung auf das Leben der Opfer zu haben, sowie weitere Opfer solch eines abscheulichen Verbrechens vorzubeugen“, heißt es in der Presseerklärung der EU-Kommission. Die Richtlinien zur Bekämpfung des Menschenhandels in Europa sehen eine einheitliche Definition des Tatbestandes vor, sowie schärfere Verfolgung der Täter und besseren Schutz der Opfer.
Wieso hat Deutschland hier bislang noch nicht reagiert? Weil sich Union und FDP bisher nicht auf ein schärferes Strafrecht einigen konnten. Das FDP-geführte Bundesjustizministerium sieht nach eigenen Angaben eine Eins-zu-Eins Umsetzung der geforderten EU-Richtlinie vor. Unionspolitiker bezweifeln jedoch, dass die Umsetzung tatsächlich so stattfinden wird. Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl sagte: „Das FDP-geführte Bundesjustizministerium plant lediglich, einige bestehende Straftatbestände auf die Fälle des Menschenhandels zu erweitern.“ Dies ist für ihn nicht ausreichend, da eine notwendige Verschärfung des Strafrechts im Falle von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung nicht vorgesehen sei.
Vier von fünf Opfern des Menschenhandels sind Frauen oder Mädchen. 62 Prozent der Opfer wird sexuell ausgebeutet, ein Viertel zur Arbeit gezwungen. Die meisten von ihnen kommen aus EU-Mitgliedsstaaten, allen voran aus Bulgarien und Rumänien. Aber auch der Anteil derer, die aus Nicht-EU-Staaten (wie z.B. Nigeria oder China) kommen, hat zugenommen. Über den Zeitraum von 2008 bis 2010 wurden der EU-Studie zufolge 23.632 Personen Opfer des Menschenhandels in der EU.
Um dem Problem des Menschenhandels zu begegnen, müsste nachgeforscht und genau differenziert werden. Dafür aber fühle sich bisher niemand zuständig, sagte Rudolf Gafner, Pressesprecher vom Schweizer Zweig der Menschenrechtsorganisation Terre des Hommes in Lausanne gegenüber der Deutschen Welle.
Verdrängen, verwässern und vergessen
Die Folge wird sein, dass das Thema nach und nach verwässert und in Vergessenheit gerät. Zu wenige Deutsche wissen von diesem Skandal, dem modernen Sklavenhandel im 21. Jahrhundert, der auch im eigenen Land blüht. Vermutlich wollen es einige auch gar nicht wissen, da es ein schrecklich unangenehmes Thema ist. Also gibt es keinen Druck von unten, von den deutschen Medien schon gar nicht.
Dadurch fällt es den Politikern nur allzu leicht, das Thema stiefmütterlich zu behandeln und sich „wichtigeren“ Dingen wie den neuen Straßenschildern zuzuwenden. Mit Menschenhandel und Prostitution kann man schließlich keinen Wahlkampf machen.
Was uns an dieser Stelle interessieren würde: Wie denkt ihr über das Thema? Wusstet ihr schon davon oder lest ihr das eben zum ersten Mal?
Den Erwartungen der deutschen Bürger zufolge soll die Regierung in Deutschland es ermöglichen, dass jeder sein Leben so gestalten kann, wie er will und es für richtig hält. Die Regierung soll möglichst wenig regulierend eingreifen, sondern nur die Rahmenbedingungen liefern, damit jeder sich „frei entfalten“ kann.
In Schweden erwarten die Menschen, dass die Regierung auch normativ wirkt, d.h. dass sie (auch in Gesetzen) festlegt, was für die Gesellschaft gut und erstrebenswert ist. Deswegen kann dort eine Regierung auch sagen: Prostitution ist schlecht, das wollen wir nicht, denn es trägt nicht zur Gleichberechtigung der Geschlechter bei. Die Einwohner Schwedens finden dieses Vorgehen der Regierung gut und unterstützen sie dabei.
In Deutschland stößt diese Vorgehensweise auf wenig Verständnis. Wie eine Umfrage des Institutes für Demoskopie Allensbach 2011 herausfand, halten 75 Prozent der Deutschen die schwedische Gesetzgebung für nicht gerechtfertigt.
Weiterführende Links
- EU-Richtlinien gegen den Menschenhandel (Englisch)
- Studie der Europäischen Kommission (Bislang konnten wir keinen einzigen Artikel auf einer der führenden Nachrichtenseiten finden, die den Direktlink zur Studie beinhaltete.)
Infografik: Human trafficking in the EU
- Die Dunkelziffer der Opfer dürfte weitaus höher sein. Der Menschenhandel ist schließlich der zweitgrößte illegale Handel weltweit, siehe Infografik ↵
Dick meint
Super Artikel! Hab ich schon vor zwei Tagen gelesen, kam aber nicht mehr dazu ein Kommentar zu hinterlassen. Das hole ich jetzt nach. Also nochmal: Super Artikel – mehr davon! Besonders aufgefallen (weil ein wenig ungewöhnlich) sind mir der Infokasten und die Infographik. Auch davon mehr!
Zum inhaltlichen: Mir ist das Thema bekannt, ich habe mich damit beschäftigt. Aber ich vermute dass es eher die Ausnahme ist, dass sich Leute damit beschäftigen. Normalerweise bin ich ja auch eher für Freiheit. Gegen Großkriminalität vorzugehen und die dafür notwendigen Gesetzte zu schaffen empfinde ich jedoch nicht als Angriff auf die Privatsphäre. Die Regierung sollte da meiner Meinung nach durchaus normativ wirken. Das Thema sollte mehr in den Vordergrund gerückt werden – auch und gerade von den Medien. Das ist wichtiger als die Selbstanzeige von Uli Hoeneß (außer dass diese Geschichte Anlass gibt über unser besch… Steuersystem nachzudenken, dass Leistung bestraft indem es Besserverdiener melkt wie Nutzvieh, aber das ist ein anderes Thema).