Ein Amoklauf ist eine Herausforderung für die Medienwelt. Man möchte schnell und umfassend informieren. Wenn jedoch Vermutungen und Gerüchte zu Tatsachen gemacht werden, kann es leicht passieren, dass Menschen Unrecht getan wird. Vorurteile im Zusammenhang mit solchen Berichterstattungen richten einen unbeschreiblichen Schaden an. So geschehen beim verheerenden Amoklauf in Connecticut.
Mittlerweile dürfte jeder von euch vom Amoklauf an einer Grundschule in der US-amerikanischen Stadt Newtown (Connecticut) gehört haben. Der 20-jährige Adam Lanza tötete dabei am vergangenen Freitag 28 Menschen, darunter 20 Kinder. Solche Nachrichten machen uns zunächst einmal betroffen. Natürlich versuchen infolgedessen Menschen wie Medien, eine Erklärung für das Motiv solch grausamer Taten zu finden. Leider lässt sich die Frage nach dem Grund oftmals nicht eindeutig beantworten, da die Täter sich entweder selbst richten oder von der Polizei erschossen werden. Was bleibt, sind wilde Spekulationen und eilig aufgeschnappte Kommentare von Personen aus dem Umfeld der Täter. Dass es dabei zu fatalen Fehlschlüssen kommen kann, zeigt der aktuelle Fall.
Journalisten fanden heraus (vermutlich durch den Bruder des Täters), dass der Täter autistisch war. Später sprach die Polizei von einem „personality disorder“ (dt. Persönlichkeitsstörung). Deutsche Medien übernahmen diesen vermeintlichen Zusammenhang umgehend. Während die einen, darunter der Hessische Rundfunk in den Radionachrichten, sehr schnell nicht mehr von Autismus sprachen, beharren andere weiterhin darauf, dass der Täter autistisch ist – und dass das eine Rolle bei der Tat spielte. Die Vermutung, dass er Autist ist, ist derzeit noch nicht erwiesen. Offizielle Aussagen darüber, ob er wirklich autistisch war, gibt es bisher keine. Sicher dagegen scheint zu sein, dass der Täter eine Persönlichkeitsstörung hatte.
Die Autorin Cinthia Briseño veröffentlichte am Samstag, den 15.12.2012 einen Artikel auf Spiegel Online, in dem sie zunächst einen Zusammenhang zwischen Asperger-Autismus (autistischen Spektrum) und dem Amoklauf herstellte. Nach Protesten von Autisten schrieb die Autorin einige Stellen ihres Artikels um. Der Artikel in seiner jetzigen Form ist nichtsdestotrotz weiterhin voller fachlicher Fehler bezüglich Autismus. Zudem bleibt der Eindruck haften, dass Amokläufer häufig autistisch sind. Beispiel gefällig?
„Gleichwohl gab es bereits Amokläufer, bei denen auch Asperger-Autismus diagnostiziert worden war. Frederik B., der Vierfachmörder von Eislingen, leidet laut psychiatrischem Gutachten an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung und hat Asperger-Syndrom. Der vierfache Frauenmörder und Serienvergewaltiger Heinrich Pommerenke, der bis zu seinem Tod 2008 als einer der schlimmsten Verbrecher der Republik galt, war einem Psychiater zufolge Asperger-Autist. Ein Arzt diagnostizierte auch beim rassistischen Heckenschützen von Malmö das Asperger-Syndrom.“
Vermeintlich entschärft wird diese Passage mit der Einleitung „Sollte Adam Lanza tatsächlich an einer Form von Autismus gelitten haben, ist das noch lange keine Erklärung für seine grausamen Taten.“ Was jedoch im Gedächtnis bleibt, ist die Verbindung zwischen Autismus und Amokläufer.
Die österreichische Tageszeitung „Die Presse“ führte ein Interview mit dem österreichischen Psychiater Reinhard Haller. Dort taucht folgende Passage auf:
„Haben Amokläufer immer Persönlichkeitsstörungen?
Es sind in der Regel keine psychisch kranken Menschen. Aber es sind in der Persönlichkeitsentwicklung gestörte Menschen. Es sind entweder neurotische, narzisstisch gekränkte Menschen oder solche, die ein Asperger-Syndrom aufweisen, sich also schwer in andere hineinfühlen können, gleichzeitig extrem kränkbar sind.“
Auch hier wird der Eindruck vermittelt, dass Menschen mit Autismus zum Kreis der Amokläufer gehören. Fachlich anzumerken ist an dieser Stelle, dass Autismus keine Persönlichkeitsstörung ist1.
Bild Online geht noch einen Schritt weiter und titelte vergangenen Montag auf der Webseite: „Der irre Amok-Killer von Newtown. Eiskalt. Ohne Mitgefühl. Kein Mitleid. Bild.de erklärt das Asperger Syndrom.“ Hier bringt schon der Aufmacher Autismus mit dem Amoklauf in Verbindung und bedient gleichzeitig noch gängige Klischees über Autisten.
Die Schweizer Tageszeitung Der Blick setzt dem medialen Desaster die Krone auf: „Das Newton-Massaker: Das Profil des Bösen: Adam Lanza war autistisch…“ Noch direkter kann man dem Leser nicht vermitteln, dass Autisten potenzielle Amokläufer und eine Gefahr für die Gesellschaft sind. Die Folgen sind einschneidend. Einige Autisten fühlen sich in die Ecke gedrängt, wie die sprichwörtliche Sau durchs Dorf getrieben und einer Hetzjagd ausgesetzt.
Dazu kommt die massive Beschädigung des Bildes von Autismus in der Öffentlichkeit. Stereotypen werden bestärkt und neu geschaffen. Alle aufgrund einer Vermutung, die längst in Nachrichtenmeldungen relativiert wurde. Die mühsame Aufklärungsarbeit, die wenige Autisten in Deutschland leisten, wird so negiert. Kleine, mühsame Erfolge werden in einem Atemzug zerstört.
Bitte keine Angst und Panikmache vor Autismus
Was hat eine solche Berichterstattung für Folgen beim Thema Inklusion und Beschulung von Autisten in Deutschland? Im schlimmsten Falle entstehen genau durch oben beschriebene Vorurteile und „fachmännische“ Fehlinformationen noch größere Ängste der Lehrkräfte vor der Inklusion von Autisten in Regelschulen. Ängste, die sowieso schon durch mangelnde Information und Ausbildung und der damit verbundenen Überforderung entstehen. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn diese Panik vor Autismus weiter geschürt wird. Zum einen noch mehr Angst vor Autisten in der Schule, zum anderen mögliche Vorbehalte von Eltern anderer Schüler. Eltern von autistischen Kindern haben es schon unheimlich schwer und müssen für die Rechte ihrer Kinder kämpfen. Soll da noch ein weiterer Widerstand von anderer Stelle hinzukommen? Letztendlich sind stets die Kinder die Leidtragenden.
Liebe Medien, ich kann an dieser Stelle nur erneut eindrücklich dazu aufrufen: Bitte besinnt euch auf eure journalistischen Grundsätze. Arbeitet sorgfältig, recherchiert gründlich und macht das, was ihr euch auf die Fahnen geschrieben habt: Qualitätsjournalismus!
Wenn autistische Kinder entsetzt zu ihren Eltern gehen und fragen „Hat ein Autist die vielen Menschen getötet?“, ist das ein Schaden, der nicht mehr gutzumachen ist.
Eva Martin meint
Ich glaube nicht, dass autistischen Kindern oder Erwachsenen damit gedient ist, wenn die wahren Zusammenhänge verschleiert werden. Es wird dann nämlich über ganz viele Faktoren nicht oder nicht so intensiv geredet, über die mehr oder anders geredet werden müsste: wie gnadenlos autistische Kinder gemobbt werden (und zwar oft von Kindern die selbst autistische Züge haben), dass sie oft eine problematische Erziehung haben, weil viele Eltern selbst ein Problem mit Emotionskontrolle und mit der Akzeptanz ihrer eigenen autistischen Züge haben, dass hinter den Aggressionen von Autisten oft weder von Eltern noch von Therapeuten erkannte Ängste stehen z.B. (https://www.spectrumnews.org/features/deep-dive/unmasking-anxiety-autism/), oder dass sie und ihren Familien oft viel zu wenig Unterstützung bekommen bei der Integration (s. was Sonja Minassian, die Mutter eines Massenmörders, der mit einem Truck in eine Menschenmenege gefahren war zu dem Helpmate Programm sagt https://heavy.com/news/2018/04/alek-minassian-parents-family/ ), dass eugenische (oder auch andere diskriminierende) Positionen gerade auch von Leuten vertreten werden, die selbst autistische Züge haben.
Halten Sie sich doch mal die Erleichterung vor Augen, die viele Menschen habe, wenn sie erfahren, dass sie Autisten sind und die Trauer, dass sie es nicht früher erfahren haben.allein DAS rechtfertigt doch schon, dass mehr über autismus geredet wird. Klar: mann muss es verantwortungsvoll tun und Ressentiments oder Hass lassen sich nicht immer vermeiden. Aber ein Tabu ist viel schlimmer und verhindert mit Sicherheit nicht, was meiner Meinung nach leicht zu verhindern wäre.