Sascha Lobo und ich haben vor allem eine große Gemeinsamkeit: Wir wünschen uns beide ein freies Internet. Wir wünschen uns beide, nicht per se als „verdächtig“ zu gelten und auf Schritt und Tritt überwacht zu werden. Aber es gibt da ein paar wesentlich Punkte, in denen wir uns unterscheiden.

Zuerst das Gute an dem Artikel:
- Sascha Lobo hat tatsächlich eine überwiegend konstruktiv-ergebnisoffene Debatte über das eigene Scheitern (der Netzgemeinde) angestoßen.
- Sascha Lobo hat die Tür geöffnet für Kritik an seinem Versagen. Zumindest, wenn ich diesen Abschnitt hier richtig verstanden habe: „Um mich aber nicht der Gefahr der selbstmitleidigen Verbitterung auszusetzen, darf der kritische Blick auf mich selbst nur der Ausgangspunkt für eine Analyse der Gesellschaft sein.“ (Hervorhebung durch den Autor)
Und nun zum weniger Guten an dem Artikel:
Kommen wir ohne Umschweife zum Kern meines Problems mit dem Artikel (nicht mit Sascha Lobo als Person!). Lobo impliziert darin, dass der US-amerikanische Geheimdienst NSA die Macht habe1 – und nicht etwa die Unternehmen, die diese Daten überhaupt erst sammeln2. Genau das ist es, was mich an dieser gesamten Debatte so ärgert. Mich ärgert es nicht, dass Sascha Lobo (erst jetzt) seine Naivität abgelegt hat, die manch andere aus der Netzgemeinde nie hatten. Sondern mich ärgert es, dass stets Politik und Geheimdienste als „die Bösen“ herhalten müssen (ohne sie verteidigen zu wollen!) und die wahren Mächtigen da draußen ungeschoren davon kommen: die (Technologie-)Unternehmen3.
Auch wenn Sascha Lobo im Teaser vom „Kontrollwahn der Konzerne“ schreibt, baut er diesen Punkt in seinem Text viel zu wenig aus. Im August 2013 hatte ich mich erstmals zu dieser Thematik geäußert:
Schon seit mehreren Jahren warne ich vor der Überwachung und Ausspähung – allerdings seitens der Unternehmen Google, Facebook und Co. Und wen hat’s gestört? Kaum jemanden. Und jetzt kommen plötzlich Politiker, die das tun und die Netzwelt empört sich. Das kann ich nicht ganz nachvollziehen. Anstatt zu fordern, dass die Politiker damit aufhören sollen, würde ich vielmehr fordern, dass die Unternehmen unsere Daten erst gar nicht so lange speichern und weitergeben dürfen. Also an der Wurzel des Problems ansetzen.
Wenn man sich die aktuelle Entwicklung des Abhörskandals anschaut, fällt auf, dass die US-amerikanischen Unternehmen erstaunlich gut dabei weg kamen. Vor allem Google hat sehr geschickt von sich abgelenkt und gemeinsam mit anderen Technologieunternehmen den US-amerikanischen Geheimdienst NSA als „böse“ dargestellt (und damit impliziert, dass man selbst ja „gut“ sei).
Aber mal ehrlich: So lange es ein Unternehmen auf der Welt geben wird, das so viel weiß wie derzeit Google, Facebook, Amazon, Apple, Microsoft und Yahoo!, wird es auch das Bestreben danach geben, an diese Daten ranzukommen – warum auch immer. Geheimdienste, Hacker, Datenklau, Spionage, Terrorismus – you name it. Die einzige Möglichkeit diese Versuchung zu eliminieren besteht darin, sie gar nicht erst zu schaffen.4 Weitere Vorschläge sind herzlich willkommen!
Die Kränkung des digitalen Lobos
Zurück zu Sascha Lobo: Mit seinem Artikel ist er in gewisser Hinsicht zum Evgeny Morozov-Befürworter geworden, der auf derselben Internetseite (Frankfurter Allgemeine) vor einigen Monaten einen lesenswerten Artikel zum gleichen Thema veröffentlicht hat (und dafür viel Häme von den „Internet-People“ bekommen hat).5 Schauen wir uns einige Aussagen Lobos einmal im Detail an:
Es gibt in Deutschland nur zwei Arten von Menschen, die, deren Leben das Internet verändert hat, und die, die nicht wissen, dass das Internet ihr Leben verändert hat.
Das ist eine sehr vereinfachte Sichtweise der Welt, die zudem offenbart, dass sich bei Sascha Lobo alles um das Internet als Mittelpunkt der Menschheit zu drehen scheint.
Allein was das Internet anbelangt, kann man sicher diverse Unterteilungen treffen: Menschen, die mobben und Menschen, die gemobbt wurden. Menschen, die produzieren und Menschen, die konsumieren. Menschen, die das Internet nutzen und Menschen, die vom Internet benutzt werden. Und spätestens hier wird deutlich: Manchmal finden wir uns in beidem wieder, manchmal auch in keinem.
Dass das Internet Auswirkung auf die gesamte Menschheit hat – und der Einfluss auf die westliche Gesellschaft noch stärker ist – will ich gar nicht bestreiten. Aber es auf die beiden von Lobo genannten Arten zu reduzieren, wäre mir doch etwas zu platt und undifferenziert.
Auf Hunderte Server verteilt finden sich delikateste Daten über praktisch jede in Deutschland befindliche Person, deshalb betrifft der Spähskandal auch jene, die glauben, der Totalüberwachung zu entgehen, indem sie Facebook nicht benutzen.
Richtig, ich kann die Totalüberwachung leider nicht vermeiden. Aber ich kann zumindest selbst eine Entscheidung treffen, nicht auch noch aktiv(!) und freiwillig(!) die Datenkraken mit meinen persönlichen Daten füttern zu wollen. Wie lange ich diese Wahl noch habe, ist dabei eine ganz andere Frage.
Da wurde bekannt, dass Merkel zur Überwachung ihres Handys persönlich mit Obama telefoniert und dabei die NSA mit der Stasi verglichen hatte.
Jetzt kommen die Stasi-Vergleiche langsam auch auf höchster Ebene an. Aber nicht die NSA verdient diesen Vergleich, sondern Facebook. Wenn auch auf einer anderen Ebene, aber auf einer sehr viel wichtigeren, weil umfassenderen Ebene: Wir alle geben freiwillig unsere persönlichen und privaten Daten Preis – an ein Unternehmen, das börsendotiert ist und Geld verdienen will und muss. An ein Unternehmen, das seine Dienste für die Nutzer kostenlos anbietet. Vermeintlich kostenlos. „Wir bezahlen mit unseren Daten“, heißt es dann so schön. Aber was heißt das wirklich? Fakt ist: Kaum jemanden ist bewusst, was das heißt. Und kaum jemanden scheint dieser Umstand des Nichtwissens zu stören.
Wenn ich aber jemanden frage, ob ich beispielsweise seine Briefe lesen darf, verneint die Person das in aller Regel. Warum aber erlaubt sie es einem US-amerikanischen Unternehmen? Warum ist es ihr da völlig egal? Eine Frage, auf die ich bis heute keine zufriedenstellende Antwort gefunden habe. „Bequemlichkeit“, behaupten die einen. Aber „Bequemlichkeit“ ist in Wahrheit nur ein netteres Wort für „Faulheit“, behaupte ich. Und die Mehrheit der Menschen als „faul“ zu bezeichnen, wäre wirklich nicht sehr nett, oder?
Geheimdienste betreiben entgegen vieler Beteuerungen gezielte Wirtschaftsspionage. Schon das Wissen darum, im Zweifel kein Geschäftsgeheimnis bewahren zu können, kränkt. Und es schürt ökonomisch destruktives Misstrauen.
Passagen wie diese erwecken bei mir den Eindruck, dass Lobo in seinem Artikel die Unternehmen indirekt sogar verteidigt. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass er als Teil des geschäftlichen Treibens sein Geld eben auch als Unternehmer verdient – und sich daher nicht eingestehen möchte, dass die Wirtschaft mindestens genauso übel ist, wie die Geheimdienste.
Wie sehr dürfte eine Reihe europäischer Unternehmer schmerzen, dass sie ihre IT-Systeme auf praktische, hocheffiziente, billige Cloudlösungen umgestellt haben, über die sie jetzt in der Zeitung lesen, was sie niemals lesen wollten.
Das kommt davon, wenn man sich zu schnell, zu früh und zu unvorsichtig auf die Cloud einlässt. Dabei ist der Transfer von „Cloud“ zu „(ge)klaut“ doch gar nicht so groß, oder? Wie dem auch sei: Gerade Internetpioniere wie Lobo hätten diese europäischen Unternehmer davor warnen müssen. Aber stattdessen wurde technologischer Fortschritt nur allzu oft mit offenen Armen seliggepriesen und vermeintliche Kritiker als konservativ-destruktive Nörgler abgetan, was nicht immer die nachhaltigste Idee ist. Ich will damit nicht sagen, dass technologischer Fortschritt per se schlecht ist, ganz im Gegenteil. Ich freue mich über die technologische Errungenschaft des Internets. Aber ich freue mich nicht darüber, wie gewisse Politiker und Unternehmer damit umgehen. Alles hat Vor- und Nachteile. Und wir tun gut daran, diese als Journalisten auch fair zu benennen – und uns nicht von Apple-Events um den Finger wickeln lassen und völlig unreflektiert und unkritisch Lobeshymnen von uns geben, die in unkontrollierte Hypes münden…
Zurück zu Lobos Artikel, in dem ein Lichtblick auf uns wartet:
Der damals führende Hardware-Hersteller hatte die Macht der Software unterschätzt, so wie jetzt die Macht der Vernetzung unterschätzt wird.
Hier stimme ich Lobo voll und ganz zu. Doch sind es nicht wir, die Internet-People, die diese Unternehmen tatsächlich erst in diese marktbeherrschende Stellung hieven? 2012 hat Lobo das Jahr der Blogs ausgerufen – und in dem Jahr gerade einmal magere zehn Posts veröffentlicht6. 2013 waren es sogar nur noch drei Blogartikel. Sein Tool Reclaim.fm zur Datenspeicherung auf einem selbst gehosteten Server hat Lobo nach der Vorstellung auf der re:publica 2013 kaum vorangetrieben und allmählich versacken lassen.7 Zu groß das Desinteresse der Crowd? Oder zu groß das Interesse an eigenen, viel wichtigeren – weil finanziell attraktiveren – Projekten wie das groß angekündigte Sobooks?
Die Netzgemeinde agiert selbstbeauftragt, ihre Kraft und den Mut zur Lautstärke bezog sie aus der Gewissheit, die Welt verbessern zu können mit digitalen Mitteln.
Diese Gewissheit rührt, wie Lobo bereits selbst erkannt hast, aus seiner Naivität. Schade nur, dass diese Erkenntnis, entstanden aus einer zwingend notwendigen (Selbst)Reflektion, viel zu spät kommt. Aber was soll dieses Rummotzen, es bringt ja doch nichts. Aber Nichtstun und Schweigen bringt uns leider noch weniger. Was nun?
Ich empfehle an dieser Stelle allen Lesern das aufmerksame Lesen der letzten vier Absätze von Lobos Artikel, die ich sehr gut finde – mit folgenden beiden Ausnahmen:
Es ist nicht so, dass sich mit Snowden der Internetoptimismus läutern müsste in eine digitale Generalskepsis.
Ähm… und warum doch gleich nicht?
Die bisherige Form der Netzbegeisterung hat sich aber als defekt erwiesen, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist. Nach dieser Kränkung muss ein neuer Internetoptimismus entwickelt werden.
Ich begrüße die Haltung Lobos, den Kopf nicht in den Sand stecken zu wollen. Denn das bringt uns nicht weiter, Stagnation ist bekanntlich Rückschritt. Aber wie bitte soll ein neuer Internetoptimismus entstehen? Und warum brauchen wir diesen überhaupt? Weil wir mit der Realität nicht klarkommen? Fragen über Fragen…
Weiterführende Artikel
- Frankfurter Allgemeine: Wir brauchen einen neuen Glauben an die Politik! (14.01.2014)
- Lousy Pennies: Der längst überfällige “Lobo-hat-Recht-Artikel” (15.01.2014)
- mspro: Lieber Sascha, wir müssen reden. (17.01.2014)
- „Die fast vollständige Durchdringung der digitalen Sphäre durch Spähapparate aber hat den famosen Jahrtausendmarkt der Möglichkeiten in ein Spielfeld von Gnaden der NSA verwandelt.“ ↵
- In diesem Punkt werden mir einige sicher vehement widersprechen ↵
- Leider ist mir bewusst, dass man durch strengeres Regulieren, schärfere Gesetze und strikteres Maßregeln durch die Politik das Problem nicht sofort lösen würde, da wir es mit einem ideologischen Problem zu tun haben. Beinahe ebenso schwer ist es, für Weltfrieden zu sorgen. ↵
- Damit das nicht falsch rüberkommt: Ich will hier weder Politiker noch Geheimdienste in Schutz nehmen oder verteidigen. Aber ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich in der öffentlichen Debatte ein Ungleichgewicht zugunsten der Unternehmen feststelle, das aus meiner Sicht so nicht sein sollte. Denn Unternehmen sind es doch mit ihrer kapitalistischen Ausrichtung, die im Netz mit unseren Daten Geld verdienen – und daher so viel wie möglich über uns erfahren wollen. Während die NSA zwar viel Macht hat und sich möglicherweise Zugriff wider Wissen Willen bei manchen Unternehmen verschafft hat (wofür einige Unternehmen auch gut entlohnt wurden!), strebt sie doch im Kern nach etwas anderem als die Unternehmen. ↵
- Außerdem hat er bereits eine kritisch-reflektierte Antwort auf Sascha Lobos Artikel veröffentlicht, die einige interessante und zugleich abstrakte Gedanken ans Tageslicht befördert. ↵
- Gerne erinnere ich an dieser Stelle nochmal an seine großartige Kolumne „Euer Internet ist nur geborgt“ auf Spiegel Online ↵
- Ganze zwei Blogartikel im Jahr 2013, Anfang Januar 2014 dann noch einen lieblosen Blogartikel über eine „einigermassen benutzbare“ pre-Version – Leidenschaft sieht anders aus. ↵
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