Unter Bloggern wird häufig die Meinung vertreten, dass die Bündelung von Inhalten keine Zukunft mehr habe. Ich bin mir da nicht so sicher.
Als Richard Gutjahr Ende März die Frage stellte, wie sich die Zeitung neu erfinden muss, antworteten ihm gleich sechs versierte Medienprofis. Unter ihnen der Fernsehjournalist und Blogger Mario Sixtus, der kurz und bündelig erklärte, dass die herkömmliche Struktur der Zeitung ein unlösbares Problem für ihre Verkäuflichkeit darstelle: Das Konzept Zeitung leide …
„… vor allen Dingen an dem Umstand, dass sich die Menschen des 21. Jahrhunderts keine Gemischtwaren-Pakete mehr verkaufen lassen.“
„Wer sich für die Lage der Revolution in Syrien interessiert, kauft auch die Bundesliga-Berichterstattung und die bratwurstjournalistische Aufarbeitung der vorgestrigen Autohaus-Eröffnung mit. Wer sich für die Theaterpremiere interessiert, kauft auch die Syrische Revolution – und ebenfalls die Bundesliga, und auch noch die bratwurstjournalistische Aufarbeitung der vorgestrigen Autohaus-Eröffnung mit.
Dass das so ist, dafür sorgt kein … Empfehlungsalgorithmus, sondern die Idee, einen Karton zu packen mit allen möglichen Informationen, die die Redaktion für relevant hält. Im Zeitalter der Informationsselbstbedienung im All-you-can-eat-Internet werden solche Info-Pakete allerdings immer unverkäuflicher.“
Gegen den analogen Neandertaler, der sein Aussterben nicht mehr verhindern könne, stellt Mario Sixtus den modernen „Homo Webicus“:
„Der Homo Webicus ist ein Rosinenpicker: Er stellt sich seine persönliche, individuelle Nachrichtenmahlzeit aus den unterschiedlichsten Fachquellen zusammen. Verglichen damit sieht das One-Size-fits-all-Konzept der Zeitungen nicht nur unfassbar altmodisch aus, sondern schmeckt im Vergleich mit dem persönlich abgestimmten, exotischen Web-Menü wie die ungewürzte Kantinenkost einer evangelischen Weiterbildungseinrichtung.“
Das ist hübsch formuliert. Und es ist tatsächlich unbestreitbar, dass ein kluger Webnutzer sein persönliches Netz-Menü aus den unterschiedlichsten Ecken und Tiefen des Netzes zusammenstellen kann: eine Autorenzeitung ganz nach seinem Geschmack, ein Fußballmagazin, eine Blogparade, ein Rundfunkprogramm, einen TV-Sender oder eine eierlegende Wollmediensau aus den interessantesten Ressorts und Kanälen. Die gewieftesten Netzjunkies, also die mit der meisten Zeit, dem größten Freundeskreis und der höchsten Aufnahmebereitschaft können diese Mammutaufgabe sicher ohne bleibende Gesundheitsschäden bewältigen – doch genau deshalb werden sie auch eine verschwindende Minderheit bleiben.
Während sich die persönlichen Zeitungen von paper.li, flipboard und anderen Anbietern eher am unteren Rand der Leser-Aufmerksamkeit bewegen, scheinen sich die redaktionellen Bündel nun auch im Netz immer größerer Beliebtheit zu erfreuen, von Carta bis zum Hyperland des ZDF. Es ist vor allem die „händische“ Auswahl des Angebots durch eine Redaktion, nicht durch einen Algorithmus, die auch die Netz-Leser überzeugt. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, weil das alte Bündelkonzept Zeitung durch seine Auslagerung ins Netz in einem ganz anderen Licht erscheint und plötzlich modern wirkt. Offenbar schätzen auch Netzleser die Ansammlung von Kompetenzen in verschiedenen Ressorts, die zusammengenommen eine Marke bilden, deren Kern die Verlässlichkeit ist, gut informiert zu werden.
Im Netz ist solche Markenbildung nun verstärkt zu beobachten: überall dort, wo sich Einzelne zusammentun, um gemeinsam eine Plattform zu betreiben. Das Einzel-Blog wird nicht aussterben, aber es wird doch häufiger von Gruppenblogs abgelöst, weil auf solchen Seiten einfach mehr los ist. Aus der Ursprungsform Blog (der subjektiven ungefilterten Sicht eines Autors oder einer Autorin) entstehen so Autoren-Magazine und -Zeitungen im Netz.
Noch eine andere Parallele zur analogen Bündel-Zeitung ist zu beobachten: Der Ruf nach Qualitätsstandards, nach Kuratierung (Auswahl), nach Grenzziehung (gegenüber unverschämten Lesern) wird lauter. Gleichzeitig nehmen die Verbindungen (die Vernetzungen) zwischen den so entstehenden Inseln ab (Blogrolls und gegenseitige Verlinkungen). Man ist sich – wie die gute alte Zeitung – selbst genug. Man verteidigt sein Castle. Ist diese Marken- und Inselbildung im Netz ein Fortschritt?
Umgekehrt begreifen die Zeitungsmacher, die das Internet nicht nur als „Moloch“ und Feind verteufeln, dass sie ihre abgeschotteten Redakteure allmählich von misstrauischen Wagenburg-Verfechtern zu diskurs-offenen Plattform-Managern umschulen müssen. Vom Internet sensibilisierte Redakteure unterlassen ja schon heute übermäßige Eingriffe in Autoren-Texte, weil sie das Bloggerprinzip verstanden haben. Sie aggregieren gute Schreiber und deren Handschriften, um das eigene Blatt lebendig und interessant zu halten.
Natürlich sind auf beiden Seiten erst zarte Ansätze in die jeweils andere Richtung zu erkennen. Und es wird gewiss auch wieder zu Rückfällen in alte Verhaltensmuster kommen. Doch der wirtschaftliche Druck wird auf lange Sicht dafür sorgen, dass beide Seiten weiter voneinander lernen. Geflauscht und geknutscht wird deshalb zwischen Zeitungen und Netz noch lange nicht.
Dieser Artikel von Wolfgang Michal ist zuerst auf Carta.info erschienen.
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