„Freiheit für die Christen in Nordkorea! Genug Reis für alle! Die Auflösung der Straflager! Menschenrechte für alle Nordkoreaner!“ Seit mehr als drei Jahren hält Gerda Ehrlich beharrlich einmal pro Woche vor der nordkoreanischen Botschaft in Berlin eine Mahnwache. Nein, Gerda Ehrlich ist keine junge Aktivistin und sie ist eigentlich auch nicht besonders politisch. Gerda Ehrlich ist eine 72 Jahre alte Dame, deren Herz für das am meisten abgeschottete Land dieser Erde brennt: für Nordkorea.
„Es war am 29. August 2009“, erzählt die blond gefärbte Rentnerin, während sie in ihrem Tee rührt. Sie sitzt in ihrer kleinen Wohnung in Berlin Mitte, auf dem Tisch stehen Kerzen und ein paar Kekse. Ihr lebhaftes Gesicht und das grüne Oberteil strahlen Lebensfreude aus. Sie redet langsam, möchte kein Detail der Geschichte auslassen. Damals, im August 2009, hörte sie zum ersten Mal einen ausführlichen Bericht über das Leben der Menschen in Nordkorea. Es war bei einem Treffen der christlichen Akademiker, zu denen auch sie gehörte. Sie war sofort ergriffen von dem Leid in dem asiatischen Land. Schon während des Vortrags wurde ihr klar: „Du kannst das jetzt nicht nur wissen. Wie gehst du damit um?“ Schnell stand für sie fest, dass sie handeln musste. „Ich wusste, was ich tun wollte, wann und wie“, erzählt sie und in ihrem Gesicht zeigt sich die Entschlossenheit, mit der sie diese Entscheidung traf. „In diesen 20 Minuten wurde mir klar: Ich werde mich vor die Botschaft stellen, um zu zeigen, dass ich damit nicht einverstanden bin. Und ich werde es schnell machen, denn sonst wird aus dem Vorhaben nichts.“ Nur einen Wunsch hatte sie: Sie wollte nicht alleine gehen.
Es sollte sie jemand unterstützen, wenn sie die unmenschlichen Zustände in Nordkorea anprangern würde. Als überzeugte Christin hatte sie bei dem Vortrag vor allem die Not der nordkoreanischen Christen berührt, die in ihrem eigenen Land verfolgt werden. „Es herrscht eine verordnete Gottlosigkeit. Vom Kindergarten an ist verordnet, dass alle Kim Il-sung anbeten“, erklärt die 72-Jährige und gestikuliert dabei, um ihre Aussage zu unterstreichen. Aber auch der schreckliche Hunger in dem asiatischen Land hatte sie bewegt. „Im Moment hungern 16 von 23 Millionen Nordkoreanern. Dieser Hunger treibt Menschen in die Flucht. Das ist das einzige, was die geistige Fessel durchbricht: der Hunger.“ Das allerschrecklichste in dem Land seien aber nach wie vor die Arbeits- und Straflager, die von rund 40 Menschenrechtsorganisationen als „die Hölle Asiens“ beschrieben werden. Voller Mitgefühl sagt sie: „Das ist es, was mir keine Ruhe lässt.“
„Sie sollen nicht sagen: Wir haben’s nicht gewusst!“
Drei Jahre sind nun vergangen, seit Gerda Ehrlich am 11. September 2009 das erste Mal vor der nordkoreanischen Botschaft protestierte. Damals standen sie dort zu zweit und mit handgemalten Plakaten. Doch im Laufe der Jahre stießen immer mehr Menschen zur Mahnwache dazu. In all den Jahren war sie kein einziges Mal allein. „Gerade sind wir 13, die wöchentlich für eine Stunde vor die Botschaft gehen und wir haben einen Freundeskreis von 50 bis 60 Personen, die hinter uns stehen“, erzählt sie stolz. Jeden Dienstag kommt sie also mit ihrem kleinen schwarzen Wägelchen, in dem die Banner und Plakate liegen, in die Glinkastraße und begrüßt herzliche jeden, der sich an der Mahnwache beteiligt.
In diesen drei Jahren hat die Gruppe unzählige Gespräche mit Passanten geführt. Manche hatten von den Zuständen in Nordkorea noch nie gehört, andere initiierten aus lauter Sympathie spontan einen Sitzstreik. Gespräche mit Passanten sind der Gruppe besonders wichtig, da sie Aufmerksamkeit für ihr Anliegen wecken wollen. Ein weiteres Ziel ist es, der nordkoreanischen Botschaft „einen Spiegel vorzuhalten über das, was in ihrem Land los ist.“ Auch wenn politisch nicht viel getan werden könne, so könne man ihnen immer noch einen Spiegel vorhalten, sagt Frau Ehrlich mit energischer Stimme. „Sie sollen aufwachen und über ihr Land nachdenken. Sie sollen nicht sagen: Wir haben’s nicht gewusst!“
Ein Stückchen habe sie die Mahnwache aber auch für sich selbst ins Leben gerufen: „Damit man an irgendeiner Stelle seine Empörung und sein Mitgefühl ausdrücken kann“, sagt sie nachdenklich. Heute hat sie die Freiheit dafür. Gerda Ehrlich weiß aber auch, dass es anders sein kann. Sie weiß, wie es ist in Unfreiheit zu leben. Sie kennt das Gefühl, Angst davor zu haben, dass man etwas Falsches sagt. Und sie weiß, wie es sich anfühlt, benachteiligt zu sein, weil man an Gott glaubt. Vielleicht ist darum ihr Mitgefühl für die Nordkoreaner so groß.
Der Kampf für Gerechtigkeit ist nie sinnlos
Als 1945 der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, war Gerda Ehrlich fünf Jahre alt. Sie lebte mit ihrer Mutter auf einer Gastwirtschaft in der damaligen DDR. „Meine Kindheit war schön. Nach dem Krieg haben alle gehungert, aber wir waren nicht arm. Wir haben unser Haus mit anderen geteilt“, erzählt sie. Bei der Erinnerung an die Zeit nach dem Krieg, in der manche Menschen ihr letztes Brot mit anderen geteilt haben, kommen ihr auch heute noch die Tränen.
Als Jugendliche musste Gerda Ehrlich immer wieder erfahren, dass sie in der DDR nicht frei ist. Mehrmals wurde sie gezwungen, Dokumente zu unterschreiben, mit denen sie nicht einverstanden war. Nur einmal beugte sie sich diesem Zwang, weil sonst ihr Vater Schwierigkeiten bekommen hätte. Als junge Frau wollte sie Lehrerin werden. Doch sie wusste, dass dieser Beruf zu politisch werden würde und so wurde sie Außenhandelskauffrau. Immer wieder bekam sie Schwierigkeiten mit den staatlichen Behörden, weil sie ihre eigene Meinung hatte – und weil sie Christin war. „Die Querelen mit dem Staat waren immer so eine latente Bedrohung“, erzählt sie nachdenklich und macht dann eine lange Pause. „Ich habe geträumt, dass es mal freier wird, dass man sagen kann, was man denkt und nicht immer so überlegen muss. Aber ich hatte nicht gedacht, dass sich dieser Traum erfüllt.“
Doch der Traum wurde wahr. Gerda Ehrlich hat erlebt, wie Ost- und Westdeutschland wiedervereint wurden. Sie hat erlebt, dass es sich lohnt, „wenn man sich für Recht, Gerechtigkeit und ein bisschen Wahrheit einsetzt“. Sie weiß, wie wertvoll Freiheit ist. Auch deswegen macht sie die Unfreiheit in Nordkorea so wütend. Dass Menschen nicht glauben können, was sie wollen, dass sie Angst haben müssen zu sagen, was sie denken und dass sie sich nicht frei bewegen können. „Dazu kommt, dass der nordkoreanischen Staat seinen Bürgern weismachen will: Wir sind das beste System, dass es auf der Erde gibt“, sagt sie und ihre Wut ist ihr ins Gesicht geschrieben.
Aber das Erlebnis der friedlichen Revolution und Wende in Deutschland gibt ihr auch Hoffnung. „Ich hoffe auf eine Wiedervereinigung zwischen Nord- und Südkorea“, sagte sie sehr nachdenklich. Auch wenn der Unterschied viel größer ist als zwischen Ost- und Westdeutschland, hört sie nicht auf zu hoffen, dass dadurch die grausamen Menschenrechtsverletzungen ein Ende finden.
Das öffentliche Interesse an Nordkorea sei in letzter Zeit etwas gewachsen, sagt die 72-Jährige. „Aber dass es ein Aufschrei ist, kann ich nicht sagen.“ Nordkorea bräuchte eine größere Lobby, da ist sich die Rentnerin aus Berlin sicher. „Es müsste zumindest mal auf den Stand der anderen bedrängten Länder wie Syrien und Ägypten gehoben werden“, sagt sie. Die Möglichkeiten, politisch einzugreifen, sind sehr begrenzt. Trotzdem hat Gerda Ehrlich ganz konkrete Vorstellungen, wie eben doch etwas getan werden könnte. So wünscht sie sich etwa, dass jede Hilfslieferung, die nach Nordkorea geht, an Bedingungen gebunden wäre. Und dass das internationale Rote Kreuz in die Lager gehen und dort helfen würde.
Die Liebe tut ihr Werk bis ans Ende
Nein, Gerda Ehrlich ist keine gewöhnliche Rentnerin. „Eine Rentnerin, die nur hier sitzt und fern guckt, das wäre nicht mein Leben“, sagt sie lachend. Sie habe sich schon immer neben dem Beruf ehrenamtlich engagiert. Eine eigene Familie hat sie nicht. Zwei Mal war sie verlobt, doch die Beziehung ging vor der Hochzeit auseinander. In ihrem Bücherregal stehen viele Bücher über Nordkorea und geflohene Nordkoreaner. „Ich muss immer etwas machen, wofür ich brennen kann, sonst würde ich mein Leben nicht mehr lebenswert finden“, sagt sie als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Wie lange sie noch für Nordkorea auf die Straße gehen wird, weiß sie nicht. „Die Liebe tut ihr Werk bis zum Ende. Ich möchte so lange weitermachen, bis sich etwas verändert.“
Bilder: Debora Höly, David Vogt
Dick meint
Ich habe die Dame einmal getroffen, wo sie einen kleinen Vortrag hielt. In der Tat scheint sie sehr „normal“ zu sein – umso mehr finde ich, dass sie so zeigt, dass es nicht (nur) „Superhelden“ braucht, sondern dass sich auch „Normalos“ einsetzen können. *Daumen hoch* von mir