Vor einigen Monaten, als es um die Hungerkatastrophe am Horn von Afrika ging, war das Thema „Flüchtlinge“ in den Medien fast schon prominent. Ich finde es erschreckend, wie schnell das mediale Interesse an Themen wie diesem wieder abflaut. Immer noch sterben am Horn von Afrika Menschen an Hunger, immer noch gibt es zu wenig Lebensmittel und immer noch sind tausende von Menschen auf der Flucht – doch die Öffentlichkeit hat ihr Interesse unterdessen längst anderen Themen zugewandt.
Für einen kurzen Augenblick standen die Flüchtlinge und ihr Schicksal im Rampenlicht – doch die allermeisten von ihnen bekommen nie eine Stimme oder bleiben vergessen. 1 Viele von ihnen bleiben für immer heimatlos, denn nicht jeder, der vor Naturkatastrophen oder Krieg flüchten muss, hat eines Tages die Möglichkeit wieder dorthin zurückzukehren.
Friseursalons statt weißer Zelte
Wenn wir an Flüchtlingslager denken, sehen wir oft weiße Zelte und Hilfsorganisationen. 2008 besuchte ich das „Buduburam Refugee Camp“ 2 nahe der ghanaischen Hauptstadt Accra, das für mich gar nicht nach einem typischen Flüchtlingslager aussah. Es gibt Häuser aus Stein, kleine Läden, Friseursalons und eine Schule. Für ein Flüchtlingslager, das eigentlich nur eine vorübergehende Bleibe sein sollte, gibt es hier recht viel. Doch dafür, dass das nun die Heimat dieser Menschen sein muss, ist vieles sehr spärlich und provisorisch. In Buduburam traf ich damals vor drei Jahren Henry, einen Liberianer, der nun schon seit 20 Jahren dort lebt. Seitdem höre ich immer wieder von ihm via E-Mail, wenn er von einem Leben erzählt, das dem meinen so fern ist.
Manch einer mag sich fragen, wie das alltägliche Leben in einem Flüchtlingslager aussieht. Woher bekommen die Menschen ihre Lebensmittel? Womit vertreiben sie sich ihre Zeit? Henry erzählt dazu: „Ich arbeite als Freiwilliger des Nachbarschaftsaufsichtsteams (Neighborhood Watch Team, kurz: NEWAT). Das ist unser lokales Sicherheitssystem, das wir gegründet haben, um das Leben und das Eigentum der Flüchtlinge hier im Lager zu schützen. Für meine Arbeit bekomme ich monatlich einen halben Sack Reis und etwas Öl, aber kein Bargeld. Ich organisiere zudem Unterricht für Grundschulkinder. Mit dem Geld, das ich damit verdiene kann ich Lebensmittel kaufen. Zusammen mit dem, was ich vom NEWAT bekomme, reicht es meist für mich und meine Familie. Meine Kinder gehen momentan nicht zur Schule, da ich nicht genug verdiene, um ihnen zu Essen zu geben und sie gleichzeitig auch in die Schule zu schicken. 3 Das ist auch meine größte Herausforderung. Außerdem ist momentan gerade unser Dach kaputt und wann immer es regnet können wir nicht schlafen, da alles nass wird. Dann müssen wir warten, bis die Sonne alles wieder trocknet. Wir haben kein gutes Trinkwasser und auch Lebensmittel bereiten uns täglich Sorge. Wir können jeden Tag nur eine Mahlzeit essen.“
Für immer der Heimat beraubt
Henry flüchtete 1990 aus Liberia, als dort der Bürgerkrieg ausbrach. Sein Vater stand damals auf der „schwarzen Liste“ der Rebellen von Charles Taylor, weil er für die Regierung von Präsident Samuel K. Doe arbeitete und zum Stamm der Krahn gehörte, der die Zielscheibe der Aufständischen war. Henrys Vater wurde getötet. Doch das war nur der Anfang. Am eigenen Leib erfuhr Henry viele der Gräueltaten, die Menschen wie du und ich nur aus Filmen kennen. Er erinnert sich noch sehr genau an den Tag, als die Rebellen zu ihnen nach Hause kamen. Als er mir 2008 davon erzählte, hatte er Tränen in den Augen – auch 17 Jahre später noch. „Sie haben mich gefesselt und mit einem Messer an Hand und Knie verwundet. Einer von ihnen befahl mir, meinen Mund zu öffnen. Dann hat er in meinen Mund uriniert und mir befohlen, den Urin zu trinken, was ich tat. Vor meinen Augen haben sie meine Mutter ausgezogen und meine Schwester vergewaltigt. Dann haben sie unser Haus angezündet.“ Das war der Tag, als Henrys Familie auseinandergerissen wurde und er seine Heimat für immer verlor.
Eine Bekannte seines Vaters floh mit ihm in die Elfenbeinküste, wo sie mehrere Jahre lebten. Doch auch dort waren sie vor den Rebellen nicht sicher und flohen deshalb nach Ghana. Nun lebt Henry – und mit ihm tausende Flüchtlinge – seit knapp 20 Jahren dort. Doch eine neue Heimat ist Ghana nicht geworden. „Fünf Familienmitglieder leben mit mir hier in Buduburam“, erzählt Henry. „Von einigen Familienmitgliedern habe ich seit dem Krieg nichts mehr gehört. Ich weiß nicht wo sie sind, noch nicht einmal, ob sie noch am Leben sind“.
Als ich vor drei Jahren Buduburam besuchte, lebten dort noch etwa 23.000 Menschen. Buduburam war eigentlich eine Stadt für sich. Doch dann begann die ghanaische Regierung die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzuführen. Viele gingen, einige kamen wieder zurück. Wenn man Henry fragt, ob er nach Liberia zurückkehren möchte, hat er eine eindeutige Antwort: „Ich möchte nicht zurück nach Liberia. Die Gründe dafür sind das schlechte Bildungssystem – für mich und meine Kinder –, mangelnde Sicherheit für Leben und Eigentum und fehlende Arbeitsmöglichkeiten. Außerdem ist da immer die Angst, dass die, die uns während des Bürgerkrieges Schaden zufügten, das wieder tun könnten. Diese Menschen leben immer noch dort.“
Die Alternative wäre in Ghana zu bleiben und dort zu arbeiten. Dafür müsste sich zwar einiges ändern, doch möglich sei das auf jeden Fall, meint Henry. „Ich müsste die Möglichkeit bekommen außerhalb des Flüchtlingslagers zu leben. Für mich und für meine Kinder müsste es die Möglichkeit geben unterschiedliche Schulen und Bildungsinstitutionen zu besuchen. Und wir müssten Lernmaterialien bekommen, wie Bücher, Internetzugang und Computer. Mit dieser Art von Hilfe könnte ich das Lager verlassen und ein anderes Leben führen. Und dann wäre es sehr wohl möglich eine Arbeitsstelle außerhalb des Lagers zu finden.“
Vom Leben gezeichnet und trotzdem hoffnungsvoll
Henry hat weit mehr Grausamkeiten erlebt, als die meisten von uns. Er hat erfahren was es bedeutet verfolgt zu werden, er hat Familienmitglieder aufgrund seiner ethnischen Herkunft verloren und er ist seit Jahrzehnten heimatlos. Trotzdem hat er seine Hoffnung nicht verloren. „Ich möchte ein guter Vater sein, meinen Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen und meine eigene Bildung professionalisieren“, sagt er. „Ich möchte arbeiten können und ein normales Leben als Mensch leben. Und sollte ich jemals eine höhere Position bekommen, würde ich gerne denen helfen, die in der Position sind, in der ich mal war. Ich hoffe auf eine bessere Zukunft. Ich wünsche meinen Kindern, dass sie ihre Ausbildung beenden können und eines Tages Männer und Frauen sind, die die Gesellschaft verändern.“
- Nach Angaben des UNHCR gibt es weltweit mehr als 43 Mio. Flüchtlinge (Quelle: http://www.unhcr.org/4dfa11499.html. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands. Wie oft hören wir von diesen Menschen in den Medien? ↵
- Momentan leben hier noch knapp 12.000 Menschen aus Liberia und Sierra Leone. ↵
- Die Gebühr für ein Schuljahr in Buduburam kostet umgerechnet zirka 330 Euro. ↵
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