Die großen Sozialen Netzwerke schränken die Nutzerfreundlichkeit immer weiter ein und schotten sich ab. Wir lassen uns das nur noch gefallen, weil das nächste große Ding noch nicht da ist. Dann kann es aber ganz schnell gehen.
Es ist nur eine kleine Meldung, und nicht mal eine, die überrascht: Tweetdeck für mobile Plattformen und für die Adobe Plattform Air soll nicht weiterentwickelt werden. Nutzer sollen lieber die originale Twitter-App nutzen.
Artenvielfalt: Twitter und sein Ökosystem
Tweetdeck ist ein sogenannter Twitter-Client. Eine Anwendung, die es einfach macht, Tweets zu versenden (auch über mehrere Account) und in Kolumnen Erwähnung, Direktnachrichten, Listen oder gespeicherte Suchen anzeigt. Auch die Integration von anderen Sozialen Netzwerken, wie zum Beispiel Facebook oder LinkedIn war möglich. Entwickelt wurde die Software 2008 und erfreute sich großer Beliebtheit. Andere bekannte Twitter-Clients sind Hootsuite oder Seesmic. Denn die Twitter-Homepage war und ist immer noch ein Usability-Desaster.
Nicht nur aus diesem Grund entstand rund um Twitter ein komplettes Ökosystem von Anwendungen, die über die Programmierschnittstelle, die sogenannte API, die Twitter-Nachrichten schicken und abrufen konnten. Ein mehr oder weniger offenes System, dass für jeden Nutzer-Geschmack etwas zu bieten hatte. Und wer mehr brauchte, konnte es sich einfach programmieren (lassen).
API-Kahlschlag: Tweetdeck, Falcon und Co.
Diese Zeiten sind vorbei. 2011 kaufte Twitter Inc. die Macher von Tweetdeck und ihr Projekt auf. Kurze Zeit später wurde die Integration anderer Dienste zurück gedreht. Und mit dem Ausstieg aus den mobilen Anwendungen ist es jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis Tweetdeck verschwindet.
Es wäre nicht die erste Twitter-App, im Gegenteil. Denn Twitter hat in den vergangenen Monaten die oben erwähnte Schnittstelle immer mehr geschlossen. Eine der neuen Vorgaben von Twitter war, dass externe Twitter-Clients nicht mehr als 100.000 Nutzer haben dürfen. Diese Schallgrenze wurde zum Beispiel vor Kurzem von der App Falcon erreicht. Neue Nutzer können sich praktisch nur noch anmelden, wenn alte Nutzer ihren Account aufgeben.
Die Twitter-Serengeti ist schon tot
Das Ziel ist klar: Twitter will alle Nutzer auf seine Webseite oder in die offizielle App zwingen – vor allem um dort Werbung anzeigen zu können.
Der Kollateralschaden ist groß. Wäre das Twitter-Ökosystem ein echtes Ökosystem, würden längst BUND, Nabu und Greenpeace für den Fortbestand kämpfen. Und genau wie die Großgrundbesitzer, die Urwald abholzen, dort Soja oder Biosprit-Pflanzen anbauen, vergessen, dass sie mit einem kurzfristigen Erfolg langfristige ökologische und ökonomische Schäden verursachen, sieht Twitter nicht die Gefahr, die in dem Schritt lauern könnte. Serengeti darf nicht sterben. Zu spät.
Wann kommt der Wettbewerber, der besser ist?
Denn die Kurznachrichten-Plattform hat kein natürliches Monopol. Wenn ein Wettbewerber die sich öffnende Nische besetzt, könnte es schnell eng werden für Twitter. Einziges Manko ist die kritische Masse, die der andere Dienst erreichen müsste. Dass also so viele Nutzer dorthin wechseln, dass dort schnell Diskussionen in Gang kommen und sich somit ein Wechsel für andere lohnt.
Facebook wird uncool
Aber es gibt ja noch Facebook. Allerdings mehren sich auch hier die Stimmen, dass das Soziale Netzwerk seinen Zenit vielleicht schon erreicht hat. Dass die Wachstumsraten sinken, ist okay, schließlich finden sich nur noch wenige Internetnutzer, die keinen Facebook-Account besitzen. Allerdings hat die Begeisterung für das Neue abgenommen. Die Interaktionen im digitalen Freundeskreis werden weniger, nur selten kommt es zu wirklichen Diskussionen.
Blake Ross, ehemaliger Produktmanager bei Facebook, schrieb am Tag seiner Kündigung an seine Pinnwand halb im Scherz, halb ernst, dass ein Forbes-Journalist den Freund seines Sohnes gefragt habe, ob Facebook immer noch „cool“ sei. Er sagte nein, zudem würden alle seine Freunde so denken — sogar Leila, die Facebook immer geliebt hat.
Privatsphäre und Sichtbarkeit
Nutzer stören sich an den miesen Privatsphäreeinstellungen, die sich alle paar Monate ändern. Außerdem entscheidet Facebook, welche Freunde interessant sind und angezeigt werden – und wessen Posts quasi verschwiegen werden. Transparenz sieht anders aus. Bei dem von Facebook für eine Milliarde Dollar erworbenen Fotodienst Instagram halbierte sich von heute auf morgen die Nutzerinteraktion, als bekannt wurde, dass neue Nutzungsbedingungen in Kraft treten sollten (die gar nicht mal schlimmer waren als die aktuellen).
Unternehmen hingegen beklagen sich, dass nur noch 10 % ihrer Facebook-Posts in der Timeline der Nutzer erscheinen würden (außer wenn dafür gezahlt wird). Und Facebook selbst weiß offenbar nicht so recht, was werden soll, wenn immer mehr Nutzer auf mobile Geräte umsteigen.
Was kann Google+?
Und dann ist da ja noch Google+, das soziale Netzwerk des Suchmaschinengiganten. Zum großen Facebook-Konkurrenten hat sich der Dienst noch nicht aufgeschwungen. In den Anfangsmonaten wurde auf Google+ eigentlich vor allem über ein Thema geredet: Google+. Das ändert sich nun.
Zum einen, weil Google+ in der Tat einige nette Dinge zu bieten hat: Der Ansatz, verschiedene Nutzer in verschiedene „Kreise“ einzuteilen, sorgt dafür, ziemlich detailliert dosieren zu können, wer was lesen kann. Hangouts, also eine Art Skype-Videogespräch mit mehreren Teilnehmern gleichzeitig, lassen sich direkt ins Netz streamen und auf YouTube veröffentlichen – und machen theoretisch jeden Nutzer zu einem Talkshow-Gastgeber. Auch die Communities-Funktion, mit der sich Gruppen organisieren, funktioniert überraschend gut.
Teamplattform und niveauvolle Diskussionen
Zusammen mit dem Office-Pendant Google Docs ist Google+ eine gute Plattform für Teams, deren Mitglieder auf unterschiedliche Orte verstreut sind. Direkte Videogespräche, also synchroner Austausch, sowie asynchroner Austausch über Statusmeldungen, geteilte Links und gemeinsame Dokumente erleichtern die Arbeit.
Und: Die Diskussionen auf Google+ erreichen offenbar ein höheres Niveau als vergleichbare auf Twitter und Facebook. Das mag einerseits an dem verfügbaren Platz liegen, aber natürlich auch an der noch sehr starken Exklusivität des Clubs der Nutzter.
„Plus-ifikation“ der Google-Welt
Allerdings: Eine echte API gibt es auch für Google+ nicht. Keine Clients von Drittanbietern. Kein Ökosystem. Statt einen Urwald möglich zu machen, wurde hier gleich die Monokultur gepflanzt. Und die Monokultur wird durch die fortwährende Integration verschiedener Google Anwendungen (wie zum Beispiel YouTube) – die sogenannte „Plus-ifikation“ – sogar noch erweitert.
Facebook, Twitter, Instagram, Google+ und andere haben etwas Neues geschaffen, was offensichtlich Milliarden Nutzer begeistert. Allerdings haben sie auch das offene Netz durch viele mehr oder weniger hermetisch abgeschlossene Räume ersetzt. Statt Urwald: wieder Monokulturen. Monokulturen, die jedoch nicht mal einen Austausch an Blütenpollen ermöglichen. Bienen, die von einem Feld vom anderen fliegen wollen, wird ein Netz gespannt. Schließlich gibt es kein Recht auf einen Zugang zu den Pflanzen – selbst wenn die Bienen am Anfang erst dafür gesorgt haben, dass das Feld wächst und gedeiht.
Ein neuer Anfang?
Anil Dash hat das sehr schön beschrieben in seinem Artikel „The Web we Lost“. Die Offenheit und Kreativität des Netzes ist dahin. Heute regieren Abschottung und Einschränkung das Netz. API-Schranken, Bezahlschranken, Nutzungs-Schranken.
Lust habe ich persönlich keine mehr darauf. Andere offenbar auch nicht. Immer wieder sehe ich, dass Freunde und Bekannte, anstatt sinnlos in ihren Timelines herumzuscrollen, ihre lange vernachlässigten Blogs wieder mit Leben füllen (wie zum Beispiel KP Frahm). Vielleicht ist das offene Netz noch nicht tot. Vielleicht ist dies erst der Anfang von etwas Neuem.
Dieser Artikel ist zuerst auf Claus Hesselings Blog netzprotokolle erschienen.
Michael meint
Interessanter Artikel und ich habe ähnliches beobachtet. Twitter fehlte einfach von Anfang an das Geschäftsmodell und mit dem systematischen Aufkaufen der Konkurrenz und diese dann zu Grunde gehen lassen, kann man sich auch nicht ewig über Wasser halten.
Als Twitter-Alternative (und eigentlich ist es viel mehr als das) gefällt mir App.net mittlerweile viel besser. Die haben ein klarer Geschäftsmodell, dadurch auch keine Werbung und die Apis sind vorhanden. Zudem ist die Stimmung in diesem Netzwerk um einiges besser, da alles noch recht jung ist und viele begeisterte Nutzer dabei sind :)
JUICEDaniel meint
Bzgl. App.net hier ein Artikel, der mir Kollege Jürgen Vielmeier gerade auf Twitter empfohlen hat: App.net bietet noch lange nicht genug Gründe, um Twitter zu verlassen Finde seine Argumente überzeugend, sehe das ähnlich.
Nichtsdestotrotz: Die Politik von Twitter, die Konkurrenz aufzukaufen und zu Grunde gehen zu lassen, halte ich auch nicht nur für sinnfrei, sondern auch schädlich. Posterous einstellen? Der Gewinner heißt Tumblr. Tweedeck + Air einstellen? Hier sehe ich erst einmal gar keinen Gewinner.
Michael meint
Ich habe den Artikel gelesen und gesehen, dass dort anscheinend der Sinn von App.net noch nicht ganz verstanden wurde. App.net darf nicht als reine Twitter-Kopie angesehen werden (obwohl das so oft kommuniziert wird). Es gibt bei App.net nämlich viel mehr zu machen und die Strategie geht weit über die 256 Zeichen-Streams hinaus.
Ein Artikel dazu den ich empfehlen kann: http://www.taptoplay.de/post/44371076223/die-verschiedenen-kleider-von-app-net
Und was die kritische Masse an Freunden in Sozialen Netzwerken betrifft. Real-Life Freunde habe ich auf Twitter sowieso praktisch keine und viele interessante Leute sind bereits bei App.net und haben Twitter den Rücken gekehrt. Also dieses Argument zieht bei mir nicht ;-)
KP Frahm meint
Weil mir die Opferhaltung der Early Adopter und Entwickler bzgl. Twitters Kurswechsel (API, Tweetdeck) immer mehr auf die Nerven geht, habe ich dazu ein kleines Räntchen geschrieben: Wer Twitters Strategie verurteilt, sieht die eigenen Fehler nicht :)