Während Lothar Matthäus in Rom erleichtert den WM-Pokal in die Höhe reckte, saß Hans Manthey auf einem Sofa in Potsdam und wusste nicht so recht, ob er sich nun freuen sollte, oder nicht. Als Deutscher fühlte er sich knappe acht Monate nach dem Mauerfall noch nicht. Wobei, eigentlich war es ihm ja ganz recht, dass es die DDR nicht mehr gab. Zumindest auf den Fußball bezogen.
Als Andi Brehme in der 85. Minute endlich den Ball im argentinischen Tor versenkte, interessierte das Hans Manthey gar nicht so sehr. Finale gewonnen, Fernseher aus, ab ins Bett. Dabei ist und war der damals 32-Jährige schon immer großer Fußball-Fan. Nicht mal ein kleines Bisschen gefeiert? „Nö“, sagt Manthey. „Es gab damals viel Interessanteres als Fußball.“
Während der Informatiker damals mit seinem Vater auf der Couch saß und gemütlich das Ende der Weltmeisterschaft in Italien verfolgte, hatte er nur eine leise Ahnung, wie groß der Umbruch noch werden sollte, in dem sein Leben sich gerade befand. Denn diese Mannschaft, die da Argentinien mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit an die Wand spielte, war zwar irgendwie sein Team – aber Deutschland war nicht sein Land.
Manthey lebte damals in Potsdam, war ein Kind der DDR. Im Sommer 1990 bastelten die deutschen Staatsoberhäupter gerade an der Wiedervereinigung. Deshalb geisterten Manthey einige Fragen durch den Kopf: Wie genau läuft die Wiedervereinigung ab? Was passiert mit dem DDR-Geld? Da rückte der Fußball zwangsläufig in den Hintergrund.
DDR-Fußball war „richtig schlimm“
Wobei – ein bisschen freute sich Manthey ja schon über die Auflösung der DDR. Zumindest was den Fußball anging. „Sammer, Doll – in den letzten Jahren der DDR wurde es zwar ein bisschen besser. Aber die Jahre davor war es richtig schlimm“, stöhnt Manthey, der bei Weitem nicht alle Spiele seiner damaligen Nationalmannschaft verfolgte. Er vermutete, dass talentierte Fußballer einfach nicht gefördert wurden, da andere Sportarten höher im Kurs standen. Lieber ein Schwimmer, der zehn Medaillen gewinnt, als 20 Fußballer, die eine Medaille holen, erklärte sich Manthey die Ignoranz der Sportfunktionäre.
Und so war Manthey ganz froh, sich im Sommer 1990 Deutscher nennen zu dürfen und verfolgte die Spiele der BRD nicht als leidenschaftlicher Anhänger, aber mit Interesse. „Mein Land“, Manthey malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, „gab’s ja plötzlich nicht mehr“.
„Gegen wen sollen sie verlieren?“
So erlebte er eine deutsche Mannschaft, die sich mit selten gesehener Dominanz durchs Turnier boxte. Schon nach dem 4:1-Auftakt-Sieg gegen Jugoslawien fragte sich Manthey: „Gegen wen sollen sie verlieren?“ Er beobachtete mit glänzenden Augen, wie Pierre Littbarski und Rudi Völler ihre Tore schossen und war fasziniert von Kapitän Lothar Matthäus, der den Laden zusammenhielt wie kein Zweiter. Beim hitzigen Achtelfinalspiel gegen die Niederlande konnte er es kaum glauben, dass dem spuckenden Frank Rijkaard „keiner einfach aufs Maul gehauen hat“. Beim Finale wunderte er sich, wie kompliziert es am Ende doch war, den Sieg einzutüten.
Doch als Kapitän Matthäus schließlich den Pokal in den italienischen Nachthimmel reckte, hatte Manthey das Gefühl: Die Richtigen haben gewonnen. Das ist eine wirklich gute Mannschaft. Sie waren einfach die Besten.
Die Freude währte allerdings nicht lange. Kurz nach der WM wurde Manthey vom Leben wieder eingeholt: Die IT-Firma, für die er arbeitete, kündigte ihm. Die Frage, ob er sich nun als West- oder Ost-Deutscher fühlen sollte, erübrigte sich alsbald von selbst. Denn eine neue Arbeit fand Manthey bei einem großen Versandhändler in Frankfurt. Für ein Jahr in die Mainmetropole, das klang gut. Und dann wieder zurück in die Heimat.
Parallelen zu 1990
24 Jahre später schlurft Manthey singend durch die kleine Wohnung, die er sich mit seiner Lebensgefährtin teilt. Entgegen seiner ursprünglichen Pläne ist Manthey bis heute in Hessen geblieben und wohnt jetzt in Langen. An der Wand hängen viele Bilder. Eins von ihnen zeigt ihn mit seiner Freundin im Arm. Manthey trägt das rot-schwarzen Trikot, mit dem die deutsche Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2006 auflief. Im Fernsehen läuft eine Fußball-Reportage. 52 ist Manthey mittlerweile, und er freut sich schon auf die WM in Brasilien.
Ob es diesmal wieder mit dem Titel klappt? „Ein paar Parallelen zu 1990 gibt’s schon“, überlegt Manthey. Damals wie heute habe die Mannschaft bereits ein paar verlorene Finalspiele hinter sich gehabt. „Lahm, Schweini – die Voraussetzungen sind da“, urteilt der Fußball-Fan. „Jetzt oder nie.“
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