Beklommen verlasse ich das Kino. Mir steckt ein Kloß im Hals, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Zu unwirklich wirkte der Dokumentarfilm Camp 14 über den nordkoreanischen Flüchtling Shin Dong-Hyuk auf mich.
Und doch ist mir klar: Die beschriebene Situation in den Arbeitslagern Nordkoreas ist auch heute noch Alltag für etwa 200.000 Nordkoreaner. Mein Hirn versteht es, mein Herz nicht. Den ganzen Film über werde ich dieses beklemmende Gefühl nicht los, wünsche mir nur, dass die Dokumentation endlich vorbei ist. Allein den Erzählungen des heute 29-jährigen Shin Dong-Hyuk zuzuhören ist schon qualvoll genug. Unvorstellbar, dass er kein Einzelfall ist, sondern für viele weitere Nordkoreaner steht, von denen der Rest der Welt nichts mitbekommt. Unvorstellbar, dass es heute noch so etwas gibt.
Geboren im Arbeitslager, geflüchtet mit 23
Shin Dong-Hyuk wird in einem Arbeitslager, Camp 14, geboren. Seine Eltern sind beide politische Gefangene, die sich erst im Arbeitslager kennenlernen. Die Wärter entscheiden darüber, wann welche Männer mit welchen Frauen Kontakt haben dürfen. Freiheit ist hier ein absolutes Fremdwort. Für Shin Dong-Hyuk sogar so fremd, dass es ihm bei der Flucht nicht um Freiheit, sondern um Hähnchen ging. Nur einmal leckeres Fleisch essen, nur einmal so viel Reis essen, wie er will – das war sein großer Traum, das trieb ihn an. Mit 23 Jahren flüchtete er dann aus dem Arbeitslager und sah zum ersten Mal das Leben außerhalb des Arbeitslagers. Für ihn war das wie das Paradies. Doch schon kurze Zeit später flüchtete er weiter nach China. Heute lebt er in Südkoreas Hauptstadt Seoul und arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Liberty in North Korea (LiNK).
Doch anstatt froh über seine Freiheit zu sein, sieht Shin Dong-Hyuk in den Interviews eher gequält aus. So grausam es für ihn auch gewesen war – er will unbedingt wieder zurück nach Nordkorea. Er will später am liebsten im Arbeitslager wohnen und auf dem Feld arbeiten. Das sei seine Heimat. „Sobald die Grenzen aufgehen, will ich der erste sein, der nach Nordkorea einreist“, sagt er mit entschlossenem Gesichtsausdruck. Warum? „Ich vermisse zwar nicht alles im Lager … wie soll ich sagen … aber die Reinheit des Herzens. Ich vermisse mein unschuldiges Herz.“
Mit dieser wehmütigen Aussage endet die Dokumentation. Nur zu gut kann ich seine Abneigung gegenüber dem geldbasierten System nachvollziehen. Doch ob es wirklich die Lösung ist, zurück in die Heimat zu ziehen? Ich bezweifle es. Denn wenn man die Wahrheit kennengelernt hat – mag sie zwar hart und brutal sein –, wäre sie zu verdrängen nur wie eine Flucht zurück in die Unwissenheit.1
Der Dokumentarfilm von Regisseur und Drehbuchautor Marc Wiese ist emotional, keine Frage. Er lässt auch ehemalige nordkoreanische Offiziere zu Wort kommen, die nach Südkorea geflohen sind. Trotz (oder gerade wegen) ihrer nüchternen Art, mit der sie über die Folter, Vergewaltigungen und Morde in den Arbeitslagern erzählen, kommt bei mir Wut auf. Wut auf die beiden Offiziere, Wut auf das ungerechte System, Wut auf unsere ignorante Gesellschaft. Kaum jemand in Deutschland weiß davon, kaum jemand interessiert sich dafür, kaum jemand setzt sich für Nordkorea ein.
Beklommen verlasse ich also das Kino und weiß nicht wirklich, was ich mit dem Film anfangen soll. Entsetzt, schockiert, frustriert – wie gelähmt setze ich mich in die U-Bahn und fahre heim. Das Einzige, was ich derzeit tun kann, ist darüber zu schreiben und auf diese Weise auf die Missstände aufmerksam zu machen.
Es gibt eine vor kurzem erschienene Biografie über Shin Dong-Hyuk, die weitaus detaillierter von seiner Vergangenheit erzählt. Und wie so oft glaube ich auch hier, dass das Buch deutlich packender ist. Ich habe bereits die Einleitung gelesen, die einen sehr guten Überblick über die Situation gibt – etwas, das in der Dokumentation zu kurz gekommen ist. Daher erhoffe ich mir durch das Buch eine bessere Einordnung der Geschehnisse. Das Buch ist auf Deutsch (Flucht aus Lager 14) und Englisch (Escape from Camp 14) verfügbar.
Trailer
https://www.youtube.com/watch?v=xEcdNVjjDew
Weiterführende Links
- Camp 14: Offizielle Webseite [deutsch/englisch]
- Camp 14 in den deutschen Kinos [Auflistung]
- Camp 14-Karte [Bing Maps]
- Entkommen aus der Hölle [FR-Online]
„Folter, Hunger, Denunziation: Shin Dong-hyuk wird in einem nordkoreanischen Gulag geboren. Er ist der bisher einzige Strafgefangene, dem die Flucht gelang. Seine Biografie ‚Flucht aus Lager 14‘ ist Zeugnis der unerbittlichen Härte und des menschenverachtenden Wertesystems Nordkoreas.“
Bilder: camp14-film.com
- Das erinnert mich an Cypher aus dem Film Die Matrix, der trotz dass er die Wahrheit über die Matrix kennt, wieder vergessen und zurück will. Vermutlich ein nur allzu menschlicher Gedanke. ↵
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